Von Christoph Motog
Lippstadt - „Sie ist kaltblütig, fanatisch und hat kriminelle Energie“: So warnt die Bildzeitung 1983 vor einer in Lippstadt aufgewachsenen Terroristin der Rote Armee Fraktion (RAF). Ingrid J. wird verdächtigt, 1981 am Bombenanschlag auf den Militärstützpunkt Ramstein beteiligt gewesen zu sein. Weil sie stets Kontakte in ihre alte Heimat gepflegt hat, suchen Ermittler auch in Lippstadt nach Erddepots, in denen die Terrorgruppe Waffen, Geld und gefälschte Ausweise hortet. Fündig wird man aber nicht.
Loch in der Decke
Einer der Komplizen von Ingrid J. ist Ernst-Volker Staub. Am 2. Juli 1984 befinden sich die beiden mit vier weiteren Terroristen in einer Frankfurter Mietwohnung. Kurz nach 20 Uhr hört ein darunter wohnender Handwerksmeister einen Knall. Er kann sich keinen Reim darauf machen, trinkt ein Bier und schaut die Tagesschau zu Ende. Gegen 20.30 Uhr klingelt es. Er öffnet einer hageren jungen Frau. Sie kümmere sich derzeit um die Wohnung obendrüber, die Mieterin sei verreist. Dummerweise habe die Katze das Aquarium vom Schrank gestoßen, sodass nun möglicherweise Wasser durch die Zimmerdecke dringe. Dem Handwerksmeister fällt nichts auf, er setzt sich wieder vor den Fernseher. Eine knappe Stunde später schaut er genauer nach. Da ist kein Wasser, aber ein kleines Loch in der Decke. Er blickt zu Boden, entdeckt im Linoleum ein deformiertes Geschoss und wählt die 110.
"Polizei! Aufmachen!"
Zwei mit einem Streifenwagen vorgefahrene Uniformierte inspizieren das Geschoss. Wenig später schleichen sechs mit kugelsicheren Westen bestückte Kollegen die Treppe hoch. „Polizei! Aufmachen!“ schreit einer und schlägt die Scheibe der Wohnungstür ein. Drei Frauen und drei Männer lassen sich widerstandslos festnehmen. Jemand hatte sich beim Waffenreinigen so ungeschickt angestellt, dass sich ein Schuss löste und den Fußboden durchschlug. Vier der Verhafteten, darunter Ingrid J., gehören zu den meistgesuchten Terroristen. Zum harten RAF-Kern gehören aber auch die beiden anderen, Barbara E. und Ernst-Volker Staub, die bis zu diesem Tag nur als Terror-Sympathisanten bekannt waren.
15 Jahre Haft
Ingrid J. wird 1986 wegen Mitgliedschaft in der RAF zu neun Jahren Gefängnis verurteilt. 1991 wird das Strafmaß wegen ihrer Beteiligung am Ramstein-Anschlag auf 15 Jahre erhöht. In der Zwischenzeit hat sich die Lippstädterin allerdings vom bewaffneten Kampf losgesagt, sodass sie 1994 vorzeitig freikommt. Ihr Komplize Ernst-Volker Staub hat seine Haft bereits 1988 verbüßt. Im Frühjahr 1990 taucht er unter. Drei Jahre später erfolgt die letzte RAF-Terrorattacke: ein Sprengstoffanschlag gegen die Justizvollzugsanstalt Weiterstadt. Die Auswertung der Spuren ergibt, dass Staub zu Tätern gehörte.
Überfallserie
33 Menschen hat die RAF zwischen 1971 und 1993 getötet. Unter den Opfern waren sowohl Streifenpolizisten als auch Prominente wie der Deutsche-Bank-Chef Alfred Herrhausen. Nachdem einige Jahre nicht mehr passiert, gibt die RAF 1998 ihre Auflösung bekannt: „Die Stadtguerilla in Form der RAF ist nun Geschichte.“ Wirklich? 1999 startet eine langjährige Serie von Raubüberfällen auf Geldtransporter und Supermärkte. Die Ermittler tappen im Dunkeln, bis sich 2016 dank DNA-Spuren herausstellt, wer die Serientäter sind: Ernst-Volker Staub, Daniela Klette und Burkhard Garweg. Die Drei haben sich mit den Überfällen offenbar ihren Lebensunterhalt gesichert.
Prozess ab März
Im Februar 2024 gehen Ermittler einem Hinweis auf eine Kreuzberger Adresse nach. Sie klingeln – und stoßen auf die seit Jahrzehnten gesuchte Daniela Klette. Von der Toilette aus gelingt es ihr noch, ihren in einer Berliner Wagenburg lebenden Komplizen Burkhard Garweg per Textnachricht zu warnen. Wohin der sich daraufhin abgesetzt hat, ist unbekannt. Auch der dritte des Trios, Ernst-Volker Staub, ist weiter flüchtig. Alle Drei standen bis zuletzt in engem Kontakt zueinander. Daniela Klette soll ab 25. März 2025 der Prozess gemacht werden. Neben den Überfällen wird ihr versuchter Mord vorgeworfen. Gleichzeitig ermittelt die Generalbundesanwaltschaft gegen Klette, unter anderem wegen des Terroranschlags gegen die US-Botschaft in Bonn 1991.
Kein Bedauern
Wie denken Staub, Garweg und Klette heute über ihre Vergangenheit? Burkhard Garweg meldete sich jüngst mit einem Schreiben aus dem Untergrund: Er bezeichnet sich darin als Aktivist einer „revolutionären Linken“, die die gewalttätigen Systemverhältnisse mit der Gewalt der Revolte beantwortet habe. RAF-Mitbegründerin Ulrike Meinhof setzt er in eine Reihe mit Friedensnobelpreisträger Nelson Mandela. Eine Distanzierung vom Terror kommt Garweg genauso wenig über die Lippen wie ein Wort des Bedauerns über die RAF-Morde. Stattdessen führt er Klage gegen „bürgerlich-faschistoide-kapitalistische Parteien“. Für Hinweise auf Garweg und Staub hat das LKA Niedersachsen eine hohe Belohnung ausgesetzt.