Als Westfalen zu Kafka kam

Zu seinen Lebzeiten lasen ihn nur wenige: Franz Kafka. Foto: gemeinfrei / Archiv Klaus Wagenbach

Zu seinen Lebzeiten lasen ihn nur wenige: Franz Kafka. Foto: gemeinfrei / Archiv Klaus Wagenbach

Von Christoph Motog

Lippstadt - Er hat es zum Schutzpatron der unterdrückten Angestellten geschafft: Franz Kafka. Viel ist Anfang Juni zu seinem 100. Todestag geschrieben worden. Heute gilt er als Großklassiker, als bedeutendster Wegbereiter der literarischen Moderne. Zu Lebzeiten war Kafka nur mäßig bekannt. Er war ein „writer’s writer“, der nur von seinesgleichen und den Aufgeschlossenen unter den Literaturkennern verehrt wurde. In den Bestsellerlisten tauchte er indes zeitlebens nicht auf. Ebenso wenig fand er im Kulturteil westfälischer Zeitungen statt. Drei Monate nach seinem Tod veröffentlichten die Westfälischen Neuesten Nachrichten (Bielefeld) endlich einen Nachruf über den zuvor niemals Erwähnten: Der unpopulär gestorbene Kafka sei zwar „ein sehr großer Dichter“, aber kein Autor für Leser, die sich ihrer dicken Haut freuen, lässt der Verfasser durchblicken. Kafka sei keiner für jene, die „aus lauter beglückender Lebenskraft nur Karl May und den schönen Boxsport“ ernst nehmen.

 Grotesk ist romantisch

Aber auch „viele, die sich mit Recht nicht für vernagelt hielten, legten seine Bücher ratlos, wenn nicht verärgert beiseite“ heißt es im Nachruf weiter: „Ihnen schien der Tonfall dieser Sprache, die ganze seltsame Manier, in der hier gesehen und geschildert ward, als sinnlos, unverständlich, oder gar lächerlich.“ Solche Leser lehnten das Groteske in Kafkas Erzählungen ab. Ihnen blieb fremd, dass das Groteske für eine Schreckhaftigkeit stand, für eine „große Angst vor der realen Welt“. Als Romantiker empfinde Kafka die reale Welt ja als verzerrt, schief, wackelnd und schreiend. „Wie die Melancholie sei das Groteske Ausdruck des tiefen Wissens um eine Erdenfremdheit, eine Nicht-Zugehörigkeit. Beide sind die wesentlichen Merkmale der Romantik.“ Somit sei Kafka mit seinen absonderlichen Büchern ein Meister und Vorreiter einer neuen Romantik. Angemerkt sei, dass der Verfasser des in Bielefeld veröffentlichten Nachrufes einen illustren Namen trägt: Klaus Mann („Mephisto“).

 Der Urlaubsbegleiter

In der zweiten Hälfte der 1920er taucht Kafka immer häufiger in der Bielefelder Zeitung auf, Rezension um Rezension. In ländlicheren westfälischen Blättern wird er jedoch erst Jahre nach dem 2. Weltkrieg erwähnt – im Lippstädter Patriot erstmals 1951. Damit ist der Bann endlich gebrochen. Im Hochsommer 1958 bringt der Patriot einen epischen Artikel über die Bestseller Lippstädter Buchhandlungen („Edgar Wallace in der Reisetasche. Bücher sind treue Urlaubsbegleiter“). Darin heißt es, dass neben Hemingway oder dem Lebensratgeber (jenes Genre war schon damals unvermeidlich) „Muscheln in meiner Hand“ auch „Das Schloss“ von Kafka sehr gefragt ist. So galt der viel zu früh Gestorbene nun, wie es ihm geziemt, auch in Lippstadt als Klassiker.