Von Christoph Motog Lippstadt - Kanzler Kohl schwieg, aber Bundespräsident Roman Herzog gab sich 1995 einen Ruck und spendete einem geplagten Lippstädter Trost: Er bedaure sehr, „keine Möglichkeit zu haben, dafür zu sorgen, daß die italienische Nationalfahne an Ihrem Geschäft wieder angebracht werden darf“.
Für 14 Euro
Zwölf Jahre zuvor hat sich der Modehändler Nicola Mazziotti für 14 Mark ein grün-weiß-rotes Stück Stoff am Stab gekauft. Der gebürtige Italiener befestigt die Trikolore überm Eingang seiner Herrenboutique „L’Uomo“, die er im März 1983 in der Spielplatzstraße eröffnet. Die Fahne weht dort über zehn Jahre unbeanstandet, bis 1994 plötzlich zum Sturm geblasen wird. „Sehr geehrte Frau Mazziotti“, beginnt ein Schreiben, das der Modehändler von der Stadt Lippstadt erhält. „Sie haben am Gebäude eine italienische Fahne angebracht.“ Bei dieser Fahne, belehrt das Bauaufsichtsamt den Empfänger, handelt es sich um eine Werbeanlage, für die eine Genehmigung vonnöten ist. Konsequenz: „Ich beabsichtige, Sie im Rahmen einer Ordnungsverfügung zur Beseitigung der Werbeanlage aufzufordern.“
"Sehr geehrte Frau ..."
Also abhängen? Das kommt für Signor Mazziotti nicht in Frage. Er reicht einen hochoffiziellen Antrag zum Anbringen der grün-weiß-roten Werbeanlage ein. „Sehr geehrte Frau Mazziotti“, meldet sich daraufhin die Verwaltung zurück – und dem Herrn Mazziotti dämmert, dass sein Fall kein unkomplizierter ist. „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie vorerst von Rückfragen absehen würden“, schreibt die Bauaufsicht, die dem Problem in Ruhe nachgehen möchte, denn „zunächst werden andere Fachämter und Behörden am Genehmigungsverfahren beteiligt. Erst wenn die Baugenehmigung erteilt ist, darf mit der Bauausführung begonnen werden.“ Mazziotti ist fassungslos: „Ich will doch nur eine Fahne aufhängen und kein Haus bauen.“
Ein Fähnchen bauen
Der nächste Brief lässt sich verheißungsvoll an, endlich stimmen Anrede und Geschlecht: „Sehr geehrter Herr Mazziotti“, heißt es nun, höchstpersönlich verfasst vom städtischen Beigeordneten. Das war es allerdings schon mit den guten Nachrichten. Der Adressat erfährt: Sein Bauantrag ist abgelehnt, da die „Werbeanlage gegen öffentlich-rechtliche Bestimmungen verstößt“. Die Mühlen der Verwaltung haben erstaunlich schnell gemahlen, allerdings nicht umsonst: 60 Mark beträgt die Gebühr für den Verwaltungsakt – und damit mehr als viermal so viel, wie die Fahne gekostet hat.
"Einfach lächerlich"
Mazziotti verfällt nicht in Schockstarre. „Avanti!“ denkt er – und macht seinem Ärger zunächst im Patriot Luft. Drei Wochen später bittet er das Fernsehen zu seiner Boutique. „Einfach lächerlich“, schimpft er in die Kamera. Folge: Lippstadt wird mit dem sagenhaften, von Schildbürgerstreichen gepeinigten Schilda gleichgesetzt. Die Stadtverwaltung trotzt dem Sturm und bleibt stur.
Präsidentenpost
Nicola Mazziotti hat jedoch noch mehr Pfeile im Köcher. Er schreibt an den Bundespräsidenten, den Kanzler und diverse EU-Organe. „Nicht zuständig“, lautet die Standardantwort. Mazziottis Problem sei „eine reine nationale Angelegenheit, die nicht in unseren Zuständigkeitsbereich fällt“, schreibt die Europäische Kommission. Immerhin einer der Angeschriebenen drückt sein Bedauern über den Fall aus, der eingangs erwähnte Roman Herzog.
Fall fürs Gericht
Des Präsidenten Worte geben Mazziotti Rückenwind. Beim Altstadtfest 1995 hängt er die anderthalb Quadratmeter große Italo-Fahne wieder auf. Diesen Affront lässt die Bauaufsicht nicht auf sich sitzen. Unter Androhung von 500 Euro Strafe fordert sie den Händler auf, das dreifarbige Tuch unverzüglich zu entfernen. Nun reicht es Mazziotti. Er stellt einen Eilantrag beim Verwaltungsgericht Arnsberg – und bekommt vorläufig Recht: Die Stadt sei den Beweis schuldig geblieben, dass „die in Rede stehende Fahne die Merkmale einer Werbeanlage erfüllt“. Es sei auch zu berücksichtigen, dass Mazziotti „mit internationaler Herrenmode handelt, sodaß die Anbringung einer auf eine bestimmte Nation hinweisenden Flagge nicht von vornherein als Werbung für das Geschäft verstanden werden kann“. Auch für eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vermag das Gericht einstweilen „keine Anhaltspunkte“ erkennen.
Nichts zu schützen
Im Stadtrat löst die Causa hitzige Diskussionen um die Werbesatzung aus. Es gelte, den historischen Stadtkern zu schützen, „sonst haben wir bald überfall Fahnen hängen“, sagen die einen. Andere geben nicht ohne Süffisanz zu bedenken, dass die Häuserfronten an der Spielplatzstraße alles andere als historisch sind. Und wo keine Altstadt ist, braucht man sie auch nicht schützen.
Die Post ist privat
Ende 1996 beginnt die Hauptverhandlung. Spätestens jetzt ist der Fall ein Medienereignis, sogar der populärste italienische TV-Sender Rai 1 kündigt an, eine Crew zum Ortstermin in der Spielplatzstraße zu schicken. Signor Mazziotti beruft sich auf seine Ehre: „Mein Nationalgefühl als Italiener und Europäer ist zutiefst verletzt.“ Mazziottis Anwalt Dr. Franz-Walter Henrich hält der Stadt vor, mit zweierlei Maß zu messen und fragt: Warum dürfen die Postillione am Lippertor die Fahnen schwingen? Die Stadt verteidigt sich: Die Post sei eine öffentliche Institution, für die die Werbesatzung nicht gelte. Dummerweise lässt die Stadt dabei außer Acht, dass die Post seit 1994 privatisiert ist.
Zehn kleine Fähnchen
Am 18. März 1997 fällt das Urteil. Nicola Mazziotti darf seine Trikolore hissen. Fürs Gericht ist es nicht nachvollziehbar, dass die Stadt vorm City-Hotel zehn kleine Fähnchen unbeanstandet wehen lässt, während sie Mazziottis „ebenfalls nicht besonders große Fahne“ als verbotene Werbeanlage einstuft. So etwas ist ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz, sagen die Richter. Punkt. Die Stadt reagiert zunächst trotzig: Die Werbesatzung sei nicht angekratzt, „der Richterspruch sei weder für Herrn Mazziotti noch für andere ein Freibrief, Fahnen zu hissen“. Kurz darauf signalisiert die Verwaltung jedoch, schlichte Fähnchen ohne Werbeaufdruck künftig zu dulden – und damit auch die Italienfahne von Nicola Mazziotti. Viva Lippstadt. Viva Italia. Viva Europa