Anna Maria, „die schwarze Hexe von Lippstadt“

Eduard Steinbrücks Gemälde "Die Magdeburger Jungfrauen" erinnert an das schlimmste Massaker des Dreißigjährigen Kriegs, das die Lippstädterin Anna Maria Crevet im Mai 1631 miterlebte. Foto gemeinfrei

300 Jahre nach der Heirat von Anna Maria Crevets Tochter Anna mit Hans Siemens bekam Lippstadt 1958 eine Siemensstraße. Bei Anna und Hans handelte es sich nachweislich um die Vorfahren des berühmten Erfinders Werner von Siemens. Foto: Motog

Eduard Steinbrücks Gemälde "Die Magdeburger Jungfrauen" erinnert an das schlimmste Massaker des Dreißigjährigen Kriegs, das die Lippstädterin Anna Maria Crevet im Mai 1631 miterlebte. Foto gemeinfrei

300 Jahre nach der Heirat von Anna Maria Crevets Tochter Anna mit Hans Siemens bekam Lippstadt 1958 eine Siemensstraße. Bei Anna und Hans handelte es sich nachweislich um die Vorfahren des berühmten Erfinders Werner von Siemens. Foto: Motog

Von Christoph Motog

Lippstadt  - Auf dem Scheiterhaufen „ist sogar ein schönes Mädchen gewesen von 18 Jahren …“: Das schrieb der Söldner Peter Hagendorf 1630 in sein Tagebuch, als er in Lippstadt stationiert war. Die von ihm erwähnte 18-Jährige gehörte zu den 29 Frauen und Männern, die in jenem Lippstädter Blutsommer dem Hexenwahn zum Opfer fielen. Ist es dem Weitblick eines Familienvaters zu verdanken, dass damals nicht noch ein weiteres junges Mädchen hingerichtet wurde? Die am 4. März 1611 geborene Anna Maria Crevet war schon als Heranwachsende eine außergewöhnliche Erscheinung, nach der sich auf den Lippstädter Straßen alle umsahen. Es waren ihre tiefschwarzen Augen und die ebenso schwarzen Locken, die Männern, Frauen und Kindern den Kopf verdrehten.

 In Lebensgefahr

Anna Marias Vater Gerhard führte eine öffentliche Bade- und Körperpflegestube, wodurch er ständig mit Menschen aus allen Ecken der Stadt im Gespräch war. So bekam er mit, wie im Lippstadt der späten 1620er-Jahre eine verhängnisvolle Leichtgläubigkeit um sich griff – die Einwohner schenkten den absurdesten Gerüchten Glauben. Gerhard Crevet und seine Frau Anna (geborene Gallenkamm) zogen daraus die richtigen Schlüsse. Sie erkannten, dass das Leben der geliebten Tochter aufgrund ihrer exotisch anmutenden Schönheit auf dem Spiel stand. Es dünkte den Eltern nur eine Frage der Zeit, bis man auch Anna Maria als Hexe brandmarkte. So fassten die beiden den Entschluss, ihre Tochter lieber fortzuschaffen.

 Flucht nach Magdeburg

Aber wohin? Hexenjäger wüteten um 1630 herum nicht nur in Lippstadt, sie wüteten in ganz Westfalen. Die Crevets kamen auf einen Verwandten, der die Heimatregion verlassen hatte. Jobs Bruckmann lebte nun als Kaufmann in Magdeburg, wo der Hexenwahn in jenen Jahren eingedämmt war. Hinzu kam: Während Lippstadt im 1618 begonnenen Dreißigjährigen Krieg schon bald umkämpft und fortan fast ständig von fremden Truppen besetzt war, war es im reichen und sich neutral aufführenden Magdeburg bislang ruhig geblieben – die Stadt im Osten schien eine sichere Zuflucht zu versprechen.

 Die Stadt gestürmt

Nicht lange nach Ankunft der jungen Lippstädterin spitzte sich die Situation jedoch auch dort zu. Im März 1631 erschien der berüchtigte katholische Feldherr Johann Graf von Tilly mit einem Heer von 30.000 Mann vor der Stadt und ließ sie einkesseln. Das protestantisch regierte Magdeburg hielt den Belagerern wochenlang Stand. Schließlich ging den Verteidigern aber das Schießpulver aus. Am 20. Mai stürmten Tillys Truppen los. Was folgte, war das größte und schlimmste Massaker des Dreißigjährigen Krieges, das unter dem befremdlichen Namen „Magdeburger Hochzeit“ in die Geschichte eingegangen ist. Tillys Söldnerhorden zogen mordend durch die Stadt, vergewaltigten Frauen und Mädchen, trugen aufgespießte Säuglinge wie Trophäen mit sich herum. Die von Leichen übersäten Straßen färbten sich blutrot. Zahllose Opfer forderten auch die allenthalben lodernden Brände.

 Über 20.000 Tote

Es hieß, die Taten und der Schrecken der Eindringlinge seien in ihrer Entsetzlichkeit „nicht in Worte zu fassen und nicht mit Tränen zu beweinen“. Selbst Angehörige der siegreichen kaiserlichen Armee äußerten sich angesichts der Gewaltexzesse ihrer Kameraden voller Abscheu. Begrüßt wurde das Massaker indes von Papst Urban VIII., der seine Freude über die „Vernichtung des Ketzernestes“ äußerte. Am Ende waren weit über die Hälfte der 35.000 Magdeburger Bürger tot. Nur wenige der Überlebenden kehrten später in die verwüstete Stadt zurück, Magdeburg schrumpfte zu einem 450-Einwohner-Ort.

 Nur eine Sage?

Wie aber erging es der 19-jährigen Anna Maria Crevet bei der bestialischen Einnahme Magdeburgs? Stephan Kekule von Stradonitz (1869 - 1933), ein renommierter Gelehrter und Familienforscher, beschäftigte sich Anfang des 20. Jahrhunderts mit einer scheinbar sagenartigen Erzählung, die in der Familie des berühmten Erfinders Werner von Siemens seit dem 17. Jahrhundert von Generation zu Generation weitergegeben worden war. Kekule von Stradonitz ging deren Wahrheitsgehalt nach, indem er die Akten einiger Archive durchforstete.

 Madel im Heuhaufen

Die Ergebnisse veröffentlichte der Familienforscher 1908 in seinem Aufsatz „Über das Erfindergeschlecht Siemens“. Darin berichtet er von einem 23-jährigen Soldaten, der 1631 bei der Eroberung Magdeburgs „einer der eifrigsten bei der Plünderung“ ist. Hans Volkmar heißt der Mann, der mit einer Anzahl Spießgesellen auch in das Haus von Jobs Bruckmann eindringt, wo dessen Kusine Anna Maria seit ihrer Ankunft aus Lippstadt Zuflucht gefunden hat. Volkmar und seine Kumpane durchsuchen das Haus systematisch von unten nach oben. Auf dem Boden angelangt, erregt ein großer Heuhaufen ihre Aufmerksamkeit. Die Soldaten wissen: Heuhaufen sind beliebte Verstecke, um Wertvolles zu verstecken.

 Blitzhochzeit

Hans Volkmar stochert mit seiner Waffe im Heuhaufen herum, bis er auf einen weichen Widerstand stößt. „Da! Ein dumpfer Schrei, Geraschel. Er wühlt weiter. Da stürzt sich aus dem Heuhaufen ihm zu Füßen, seine Knie umklammernd, ein schönes junges Weib, notdürftig gekleidet, zum Tod erschrocken, aus einer frischen Wunde an der Lende blutend, und fleht mit heißem Ringen ums Leben.“ Einen Augenblick steht Volkmar da wie erstarrt, blickt abwechselnd in ihre Augen und auf den von ihm verletzten Oberschenkel, „dann stürzt er sich auf sie, reißt sie hoch, wehrt mit den herausgeschrienen Worten ,Lasst die schwarze Hexe nur laufen‘ seine Gefährten zurück und eilt mit seiner süßen Beute ins Lager, alle Schätze vergessend“. Vier Tage später, am 24. Mai 1631, werden der aus Hollenstedt bei Göttingen stammende Hans Volkmar und die Lippstädterin Anna Maria Crevet von einem Feldprediger getraut.

 Nach Goslar

Der Ehemann, schreibt Kekule von Stradonitz weiter, „diente noch eine Zeitlang als Soldat, später ließ er sich in der alten Kaiserstadt Goslar am Harz nieder“. Dort brachte er es zum Stadthauptmann „und ist am 28. Mai 1678 im 71. Lebensjahr, nachdem er mit seiner bei der Belagerung Magdeburgs gewonnenen Ehefrau 47 Jahre im glücklichsten Ehestand gelebt hatte, gestorben. Seine Witwe überlebte ihn noch lange. Sie starb erst im Jahre 1696 im 85. Jahr ihres Lebens, nachdem sie von 11 Kindern Mutter, von 31 Enkeln Großmutter, von 30 Urenkeln Urgroßmutter geworden war.“

 Kinderreichtum

Die am 1. August 1636 geborene älteste Tochter des Paares bekam jenen ersten Vornamen, auf den schon ihre Mutter und Großmutter getauft worden war: Anna. Schwarzäugig und schwarzgelockt soll sie ihrer Mutter von klein auf geglichen haben. So wuchs auch Anna Marias Tochter zu einer Schönheit heran, nach der sich auf der Straße bald jeder umdrehte. Mit 22 Jahren heiratete Anna einen Kaufmann namens Hans Siemens, der in Goslar hoch angesehen war und einige wichtige öffentliche Ämter ausübte. Seine Braut brachte in das Siemens‘sche Geschlecht eine Eigentümlichkeit hinein, die es bis ins frühe 20. Jahrhundert bewahrte, „nämlich den Kinderreichtum. Kommen doch in einzelnen Fällen 13, 14 und 15 Kinder eines Ehepaars vor“, wie Familienforscher Kekule von Stradonitz bemerkt hatte.

 Siemens-Stammmutter

Außer Zweifel steht, dass die in Lippstadt aufgewachsene Anna Maria Crevet eine direkte Vorfahrin jenes berühmten Erfinders ist, der in jungen Jahren aufgrund seiner Lockenpracht den Spitznamen „Krauskopf“ verpasst bekam: Werner von Siemens (1816 - 1892). Ihre Tochter Anna wird in der 1916 erschienenen Werner-von-Siemens-Biografie des Autors Artur Fürst als eine Stammmutter des Siemens-Geschlechts gewürdigt.

 Nur ein Zufallstreffer

Im Gegensatz zu vielen anderen bedeutenden Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kultur, die im Lauf der Zeit zu Namensgebern von Lippstädter Straßen erkoren wurden, gibt es im Fall der Siemensstraße also einen wahrhaftigen lokalgeschichtlichen Bezug. Als der Stadtrat im Februar 1958 einstimmig die Benennung der neuen Straße im Lippstädter Süden absegnete, war von diesem Bezug allerdings keine Rede. Unwillkürlich mag einem da ein schwäbisches Sprichwort in den Sinn kommen: „A blende Sau find au amol a Oichele“ – zu Hochdeutsch: Auch ein blindes Schwein findet manchmal eine Eichel. -Christoph Motog