Die letzten Tage von Klein-Petz

Das Foto zeigt nicht Berolinus. sondern einen anderen Jungbären aus dem Lippstädter Tiergarten (in den 80ern). Foto: Archiv

Das Foto zeigt nicht Berolinus. sondern einen anderen Jungbären aus dem Lippstädter Tiergarten (in den 80ern). Foto: Archiv

Von Christoph Motog   Lippstadt. Der Bär war los. War er ausgebüxt, um seine vermisste Gefährtin zu suchen – seine wenige Tage zuvor in die Fremde verkaufte Schwester Berolina? An einem trüben Augustmorgen des Jahres 1960 nahm das Verhängnis seinen Anfang. Kurz vor 8 Uhr morgens stand im Lippstädter Tiergarten die Fütterung des Jungtiers Berolinus an. Seit er abgestillt war, verputzte der kleine Braunbär im Warmhaus Weißbrot zum Frühstück, während sein Außengehege gereinigt wurde. Das Prozedere war bislang stets reibungslos verlaufen, doch an jenem Tag nutzte Berolinus den Weg ins Warmhaus zur Flucht. Er machte einen Satz, stürmte an den Waschbären vorbei und sprang unweit des Tiergartenrestaurants über den Zaun. Die Polizei nahm seine Verfolgung auf, durchkämmte stundenlang den Stadtwald und die angrenzenden Wiesen – aber vergeblich.

 Bär erschossen

Drohte Lippstadt damit das zweite Bärendrama? Sechs Jahre zuvor befand sich Lippstadts Tierpark noch am Torfkuhler Weg, wo sich die 1948 begründete Silberfuchsfarm innerhalb weniger Jahre zu einem Minizoo entwickelt hatte. Das Betreiberpaar Josef und Gerda Schulte kam trotz bescheidenen Andrangs knapp über die Runden. Frühjahr und Sommer 1954 waren allerdings dermaßen verregnet, dass sich Schulklassen und Familien weitaus rarer machten als kalkuliert. Infolge der leeren Kasse konnte nicht mehr genug Futter eingekauft werden. Was nun? Die Schultes setzten darauf, einen der beiden Braunbären zu verkaufen – mit dem erhofften Erlös von 800 Mark ließen sich doch viele Tiere durch den nächsten Winter bringen. Unerwarteterweise fand sich kein Käufer, sodass der im Volksmund „Tiervater“ genannte Josef Schulte sich schließlich nicht anders zu helfen wusste, als den Bären zu erschießen – um wenigstens seinen anderen Tieren genug Futter besorgen zu können. Immerhin brachte die bittere Geschichte auch etwas Gutes mit sich: Lippstädter Tierfreunde gründeten 1955 die Tiergartengesellschaft, die fortan mittels Wunschkonzerten, Mai- und Sommerfesten viel Geld für Wölfe, Affen und bald wieder zwei Braunbären sammelte.

 

Als der ausgebüxte Jungbär Berolinus am frühen Abend des 25. August 1960 immer noch nicht gesichtet worden ist, bekommt die Polizei endlich die schon morgens angeforderte Verstärkung aus der Lipperlandkaserne. Immerhin 20 Soldaten helfen ab 18 Uhr bei der Suche mit. Die Rekruten sind erst jetzt abkömmlich, weil sie zuvor als Ernte-Nothelfer unterwegs waren. Sie handelten auf Befehl, weil die Äcker im Altkreis Lippstadt nach wiederholten starken Regenfällen unter Wasser standen.

 

Die späte soldatische Verstärkung im Stadtwald führt indes auch nicht zum Bärenfang. Schon vor 20 Uhr wird die Suche angesichts der einbrechenden Dunkelheit einstweilen abgebrochen.

 Reizt das Tier nicht!

Am nächsten Morgen bekommen die Lippstädter vom Patriot ein paar potenziell lebensrettende Verhaltenstipps: Der Bär sei ja eigentlich ein harmloses Tier. Wenn er aber gereizt wird, könne er Schaden anrichten. Falls sich der erst einen halben Meter große Berolinus also irgendwo bemerkbar macht, „darf er keineswegs etwa mit Stöcken oder dergleichen angegangen werden“. Wo aber hält sich das Tier jetzt auf? Darüber seien keinerlei Vorhersagen möglich: „Er kann sich bis in den Raum Hellinghausen entfernt haben, kann sich aber auch im Stadtwald oder in den Anlagen in der Nähe aufhalten. Nicht ausgeschlossen dürfte es auch sein, daß das verfolgte Tier einen Baum erklommen hat.“

 

Zum Zeitpunkt seines Verschwindens ist Berolinus knapp acht Monate alt. Seinen Namen hatte er bei einem Benefizkonzert im Waldschlösschen bekommen. Der Patriot berichtete am 12. Februar über die in Abwesenheit vollzogene Bärentaufe: „Die beiden Petze, die Bärin Troxi kürzlich im Heimattiergarten zur Welt brachte, will man demnächst ansprechen können. Die Gäste der Tiergartengesellschaft entschieden über die Bärennamen in geheimer Wahl. In Erinnerung an die vergangene Herbstwoche, die Berlin gewidmet war, schuf man nun auch eine Bärenbrücke nach Berlin, denn die Festversammlung entschied sich mit großer Mehrheit dafür, den Bärennachwuchs im Lippstädter Zoo mit Berolina und Berolinus zu benennen.“

 

Auch am zweiten Tag nach seiner Flucht findet sich keine Spur vom Bären. Der Patriot berichtet am 27. August: „Die große Suchaktion, die der Tiergarten zusammen mit der Polizei und der Bundeswehr eingeleitet hatte, war erfolglos geblieben und mußte abgeblasen werden, da man keine Anhaltspunkte besitzt, wo sich das Tier aufhalten könnte. Aus Nahrungsmangel wird er wohl kaum zurückkehren, da die Bären bekanntlich Allesfresser sind und der Tisch der Natur augenblicklich reich gedeckt ist. Der Tiergarten will die Suche erst dann wieder aufnehmen, wenn das Tier irgendwo gesichtet worden ist..“

 Gewehr gezückt

Am 30. August, als Berolinus bereits fünf Tage fort ist, durchstreift ein Förster spätnachmittags den Wald bei Herringhausen. Da kommt ihm plötzlich der Gesuchte entgegen. Der Förster zückt augenblicklich sein Gewehr und streckt den Bären nieder. „Berolinus hatte sich somit nur wenige Tage der ,Freiheit‘, die er sich durch einen Sprung aus dem Tiergarten selbst verschafft hatte, erfreuen können“, schreibt die Heimatzeitung. Am 2. September folgt ein Statement der Tiergartengesellschaft: „So bedauerlich der Verlust des Jungbären für den Heimattiergarten ist, so beruhigend ist es aber auch zu wissen, daß der Jungbär nun keinen Schaden anrichten kann. Es wäre betrüblich gewesen, wenn er zufällig im Walde spielenden Kindern im erschreckten Zustand gefährlich hätte werden können. Berolinus hatte sich in eine Dickung eingestellt, in der er monatelang hätte bleiben und sich von Kräutern, Gräsern und Früchten ernähren können. Die Tiergartengesellschaft hatte den Jägern der umliegenden Reviere, in denen der Bär vermutet wurde, die Anweisung gegeben, ihn zu stellen und zu prüfen, ob ein Einfangen möglich sei. Dieser Versuch mißlang, und so blieb dem Weidmann keine andere Wahl, als von der Waffe Gebrauch zu machen.“

Mutter Troxi kann sich über den Verlust ihres Sohnes auf bestmögliche Weise hinwegtrösten: Keine fünf Monate nach Berolinus‘ Tod bringt sie erneut zwei Junge zur Welt. „Die kleinen Wollknäule halten sich noch im warmen Nest auf, während Troxi dem Sonnenschein der letzten Tage nicht widerstehen konnte“, berichtet der Patriot bald. Troxi macht noch häufiger Schlagzeilen. Anfang 1963 bringt sie gleich drei Bärchen zur Welt. Im April bringt die Zeitung einen ersten Lagebericht: „Einstweilen dürfen die Kleinen aber keinen Umgang mit dem Vater Petz haben, weil man nie recht wissen kann, wie er solchen reichen Kindersegen aufnimmt. Troxi allerdings entwickelt eine geradezu rührende Mutterliebe; wenn sie den Nachwuchs auch des öfteren energisch trennen muss, wenn die hungrigen Kinder – noch werden sie von der Mutter genährt – sich um die Reihenfolge an ihren Zitzen streiten.“