Ein großer Wurf: Helen Kahan

Von Christoph Motog  

Lippstadt/Tampa Bay - Helen Kahan gehört zu den letzten noch lebenden jüdischen Frauen, die 1944 von Auschwitz nach Lippstadt gebracht wurden, um fortan als Sklavin für die deutsche Kriegsmaschinerie zu schuften. Die Holocaust-Überlebende mit Wohnsitz Florida feierte jetzt auf spektakuläre Weise ihren 100. Geburtstag: Sie eröffnete ein Baseballspiel zwischen den Tampa Bay Rays und den New York Yankees mit dem ersten Wurf („Pitch“). Für die Seniorin war es der erste Baseballwurf ihres Lebens. Unter den 25.000 Zuschauern im Stadion Tropicana Field befand sich ein Großteil ihrer Familie, darunter zwölf Urenkel. Dem Heimteam brachte ihr denkwürdiger Wurf Glück: Die Rays gewannen 5:4. Im Interview erzählte Helen Kahan hinterher, dass sie ausgiebig für ihren großen Wurf trainiert hatte, unterstützt von ihren Enkeln und Urenkeln. „Und je mehr ich übe, desto besser werde ich.“ Zu alt zum Baseballspielen fühle sie sich jedenfalls nicht – „ich hatte vorher einfach nur keine Zeit dazu“.

 

Helen Kahan wuchs zwischen den Weltkriegen in einem rumänischen Dorf auf. 1944, da war sie 21, wurde die ganze Familie nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Dort verlor die junge Frau fast alle Angehörigen. Die Eltern, Geschwister, Onkel, Tanten, Großeltern – „alle wurden im Holocaust getötet“. Neben Helen kam nur eine ihrer Schwestern und einer ihrer Brüder durch. Helen verdankt ihr Überleben dem Umstand, dass sie bei einer Selektion für Fabrikarbeit in Deutschland ausgesucht wurde. So kam sie im November 1944 nach Westfalen, ins Lager „SS Kommando Lippstadt II“. Fortan schuftete sie im Stammwerk der WMI an der Hospitalstraße – gemeinsam mit 330 weiteren Jüdinnen aus Auschwitz. Nachdem das Lager kurz vor Kriegsende geräumt worden war, überstand sie auch den Todesmarsch, der ab 1. April nach Osten führte.

 

Nach ihrer Befreiung durch sowjetische Truppen in Sachsen kehrte Helen Kahan nach Rumänien zurück. 1967 floh sie mit ihrem Mann Kalman, ebenfalls ein Holocaust-Überlebender, und den gemeinsamen zwei Kindern vorm kommunistischen Regime nach Italien. Kurz darauf folgte die Auswanderung in die USA. Die Familie lebte bis 1986 in Brooklyn, dann wurde Florida zur Heimat.

 

Nach dem Baseballspiel an ihrem Hundertsten zeigte Helen Kahn den versammelten Journalisten die ihr in Auschwitz auf den Unterarm tätowierte Häftlingsnummer 7504. „Meine Lebensgeschichte ist sicher traurig, aber es ist auch eine Geschichte der Hoffnung.“ Von Familienmitgliedern, Freunden und Weggefährten wird Helen einhellig als positiv eingestellter, „unglaublich sonniger“ Mensch beschrieben. Auch mit 100 engagiert sie sich weiter fürs Holocaust Museum in St. Petersburg/Florida – als ehrenamtliche pädagogische Kraft. „Das bedeutet mir alles. Damit sich jeder daran erinnert, dass beim Holocaust so viele Menschen umgebracht worden sind.“