Der Messerstecher vom Haarweg

Das Phantombild wurde 2014 nach einer hypnoseartigen Befragung angefertigt – rund ein Vierteljahrhundert nach zwei im Kreis Soest entdeckten Verbrechen an Dortmunder Frauen. Der mutmaßliche Messerstecher war zum Zeitpunkt der Taten zwischen 30 und 40 Jahre alt. Falls der Mann noch lebt, hat er mittlerweile ein gesetztes Alter zwischen 60 und 75 Jahren erreicht. Bildrechte: Polizei Dortmund

Das Phantombild wurde 2014 nach einer hypnoseartigen Befragung angefertigt – rund ein Vierteljahrhundert nach zwei im Kreis Soest entdeckten Verbrechen an Dortmunder Frauen. Der mutmaßliche Messerstecher war zum Zeitpunkt der Taten zwischen 30 und 40 Jahre alt. Falls der Mann noch lebt, hat er mittlerweile ein gesetztes Alter zwischen 60 und 75 Jahren erreicht. Bildrechte: Polizei Dortmund

Kreis Soest / Dortmund - Die 16-Jährige liegt am Haarweg in Möhnesee, sie droht zu verbluten. An jenem Samstag, es ist der 28. April 1990, hat sie in einer Disco im Dortmunder Norden gefeiert. Als Elvira spätabends nach Hause möchte, entschließt sie sich, die Strecke per Anhalter zurückzulegen. An der Bornstraße, unweit des damaligen Straßenstrichs, steigt das junge Mädchen in einen dunklen Mercedes, dessen Fahrer einen vertrauenswürdigen Eindruck macht. Elvira K. hat Alkohol getrunken; sie schläft in kürzester Zeit ein und bekommt nicht mit, dass der Mann neben ihr die Autobahn 44 ansteuert. 

 

Als Elvira K. aufwacht, ist der Fahrer gerade in einen Feldweg in der Nähe von Möhnesee-Ellingsen angelangt und rechts rangefahren. Er zerrt das Mädchen aus dem Auto, sticht mit einem Messer 18-mal auf sie ein, in Kopf, Hals, Rippen und Arme. Als er von ihr ablässt und sich entfernt, schleppt sich die lebensgefährlich Verletzte querfeldein zum Haarweg. Ein vorbeifahrender Brite bemerkt Elvira K. am Straßenrand. Er bringt sie nach Soest ins Krankenhaus, wo sie notoperiert und gerettet wird. 

 Prostituierten-Mord

Die Suche nach dem Täter bleibt ergebnislos, trotz eines Phantombildes. Die Kripo erkennt allerdings Parallelen zu einem Mord, der sich zweieinhalb Jahre zuvor zugetragen hat. Am frühen Morgen des 24. Oktober 1987 entdeckt ein Spaziergänger in der Feldflur bei Lippetal-Oestinghausen die blutüberströmte Leiche einer 40-Jährigen. Es handelt sich um Sylvia Beerenberg aus Dortmund. Die Mutter von sechs Kindern zwischen zehn und 20 Jahren war letztmals am Vorabend zwischen 20 und 21 Uhr in der Nähe des Dortmunder Nordmarkts gesehen worden. Um ihrem Beruf als Prostituierte nachzugehen, ist sie dort möglicherweise in das Auto ihres Mörders gestiegen, vermutet die Polizei. Die Obduktion ergibt, dass Sylvia Beerenberg infolge mehrerer tiefer Messerstiche verblutet ist. 

 

Eine 14-köpfige Mordkommission ermittelt. Deren Leiter Karl-Günther Haas ist zuversichtlich, den Fall zügig lösen zu können. Kolleginnen der Getöteten werden intensiv befragt. Im Visier der Ermittler stehen vor allem Freier aus dem Kreis Soest und Hamm, die auf dem Dortmunder Straßenstrich als Stammkunden bekannt sind. Vier Tage nach dem Mord gibt es endlich eine heiße Spur. Gesucht wird ein mittelalter Anzugträger, der Sylvia Beerenberg wenige Stunden vor ihrem Tod ansprach und in seinen Mercedes einsteigen ließ. War er ihr letzter Freier? Kolleginnen sagen aus, dass die beiden in Richtung Osten davonfuhren. 

 DNA-Spuren entdeckt

Fast 80 Hinweisen gehen die Ermittler in den folgenden vier Wochen nach. Doch der Täter wird nicht ermittelt. Es vergeht rund ein Vierteljahrhundert, bis plötzlich Bewegung in die Angelegenheit kommt. Im Sommer 2014 nimmt sich die Kripo routinemäßig noch mal den Fall Elvira K. vor, die den Messerangriff 1990 knapp überlebt hatte. Mit gewissem Erfolg: An einem damals sichergestellten Asservat werden nun DNA-Spuren entdeckt. Ein Abgleich mit den DNA-Datenbanken bleibt zwar ergebnislos, doch dann trifft man sich mit dem mittlerweile 40-jährigen Opfer zum Gespräch. Dabei überrascht Elvira K. mit der Aussage: Das kurz nach der Tat im Krankenhaus erstellte Phantombild „war nicht gut“. Eigentlich sei ihr das von Anfang an klar gewesen – doch als gerade mal 16-Jährige habe sich nicht getraut, das gegenüber der Polizei zuzugeben. 

 

Nach der Beichte von Elvira K. haben die Ermittler eine Idee: Könnte man der Erinnerung nicht auf die Sprünge helfen? Das Opfer erklärt sich zu einem sogenannten „kognitiven Interview“ mit einer Psychologin bereit. Die Hoffnung ist, vergessene Eindrücke auf hypnoseähnliche Weise zurück ins Bewusstsein rufen zu können. Das Ergebnis ist so verblüffend, dass die Dortmunder Kripo am 14. März 2014 zur Pressekonferenz lädt. Elvira K. konnte sich in der Sitzung mit der Psychologin an Details erinnern, die sie vergessen hatte. Sie konnte den Mann, der sie 24 Jahren zuvor beinahe erstochen hatte, so detailliert beschreiben, dass ein neues Phantombild erstellt wird, das mit dem alten aus dem Jahr 1990 nur wenig gemein hat. 

 Basset-Augen

Demnach hat der mutmaßliche Täter eine auffällige Augenpartie, die an einen Hush Puppy (Basset-Hund) erinnert. Er spricht Dortmunder Slang, hat schmale, „elegante“ Hände, war zum Tatzeitpunkt auffallend gepflegt und trug eine helle Cordjacke (Jeansjackenschnitt) mit Fellkragen. Der Mann war 1990 etwa 30 bis 40 Jahre alt, zwischen 1.70 und 1.80 Meter groß und von „normaler Statur“. Er fuhr einen Mercedes, vermutlich dunkelblau – eventuell mit Hammer Kennzeichen. Im Wagen lag eine Schachtel HB-Zigaretten. 

Die Veröffentlichung des nebenstehenden Phantombildes führte 2014 jedoch nicht zur Aufklärung. Anzumerken ist, dass der Täter, sofern er noch lebt, mittlerweile ein gesetztes Alter zwischen 60 und 75 Jahren erreicht haben dürfte. Die von der Staatsanwaltschaft Arnsberg ausgesetzte Belohnung von 3.000 Euro für zielführende Hinweise gilt noch heute.

 

Einen Hoffnungsschimmer gibt es inzwischen von anderer Seite: Weil die DNA-Untersuchungsmethoden stetig weiterentwickelt werden, gehören auch die Verbrechen an Sylvia Beerenberg und Elvira K. zu jenen ungeklärten Altfällen, die seit Ende 2021 vom Landeskriminalamt nach und nach neu aufgerollt werden – mithilfe aus dem Ruhestand geholter erfahrener Ermittler. -Christoph Motog