Von Christoph Motog
Lippstadt - Halb Lippstadt schaut gegen 21.40 Uhr das Europapokal- Achtelfinale zwischen Bayern München und dem FC Liverpool im TV, als an der Erwitter Straße Schüsse durch die Luft peitschen. Es ist der 3. November 1971. Passanten bemerken, wie der mutmaßliche Schütze von der Shell-Tankstelle wegrennt. Ein junger Mann, der gerade in seinen Wagen steigt, schaltet das Fernlicht ein, damit der Flüchtende im Blickfeld bleibt. Dieser hastet über die Gleise, durchquert einen Vorgarten und schlüpft schließlich durch eine Zaunlücke auf den städtischen Bauhof. Die Polizei ist bald mit Suchhunden zur Stelle, die Spur verliert sich auf der Bunsenstraße.
Unter der Schlagzeile „Brutaler Raubüberfall auf Tankwart“ berichtet Der Patriot:
„Gegen 21.40 Uhr verlassen die Eheleute Friedhelm (35) und Margarete (32) K. ihre Tankstelle. Sie schließen die Tür hinter sich ab und wollen gerade zu ihrem Wagen gehen, als plötzlich ein maskierter Mann an der Böschung vor ihnen auftaucht und ihnen zuruft: ,Halt! Raubüberfall!‘ Gleichzeitig droht er mit einer Pistole. Der Tankwart läuft schnell zu seinem Wagen, während seine Frau wegzulaufen versucht. Dabei ruft sie ihrem Mann noch zu: ,Friedhelm, hau ab!‘ – in der Hoffnung, dass dadurch der Täter von ihr abgelenkt wird, weil sie nämlich 16.000 DM Tageseinnahme und Privatgeld in einer Geldbörse bei sich hat, die sie in einer Umhängetasche trägt.
Tatsächlich reagiert der Verbrecher auch entsprechend und verfolgt den Tankwart, lässt aber schnell wieder von ihm ab und verfolgt die fliehende Ehefrau. Auf dem Grünstreifen zwischen Tankstelle und Straße fasst er die Frau und reißt sie nieder. Während er sie niederdrückt, zerrt er an ihrer Umhängetasche, bis der Bügel abreißt. In diesem Augenblick kommt Friedhelm K. heran, um seiner Frau beizustehen. Über die nun folgenden dramatischen Sekunden kann die Ehefrau keine genaue Auskunft mehr geben. ,Während ich noch am Boden lag, fielen die Schüsse, und als ich mir den Sand aus Augen und Mund gewischt hatte, lag plötzlich mein Mann neben mir, blutend, schwer verletzt!‘ In der Hand hält er noch seine Gaspistole, aus der aber kein Schuss abgegeben worden ist.“
(Soweit der Patriot-Bericht.)
Der mehrfach getroffene Friedhelm K. schwebt in Lebensgefahr. Die Dortmunder Mordkommission ermittelt. Die gefundenen Geschosshülsen werden per Hubschrauber nach Wiesbaden geflogen und im Bundeskriminalamt untersucht; Ergebnis: Kaliber 7,65 Browning.
Positanogelb
Der Paderborner Staatsanwalt Störmer spricht von „versuchtem Mord in Verbindung mit besonders schwerem Raub“. Für Hinweise auf den Täter wird eine Belohnung von 8000 Mark ausgesetzt. Die Kripo sucht nach einem orangebraunen Fiat. Der Wagen war zwei Wochen zuvor aus einer Werkstatt in Wiedenbrück gestohlen worden. Kurz vor dem Überfall wurde das Fiat-Coupé mit dem auffälligen Farbton („positanogelb“) mehrmals in Lippstadt gesichtet. Die Polizei mutmaßt, dass der Fahrer auch der Räuber ist. Es soll sich um einen etwa 30-Jährigen mit glatt nach hinten gekämmtem dunklen Haar handeln, der beim Überfall einen mattrosafarbenen Schal trug.
Friedhelm K. erliegt seinen Verletzungen zwei Tage nach dem Überfall. Zwei kleine Mädchen sind nun Halbwaisen. Eine große Trauergemeinde, darunter viele Pächter anderer Tankstellen, gibt ihm am 9. November das letzte Geleit. Zu den Fragen, die Mordkommissionschef Lohrengel umtreiben, gehört: Hat der Täter gewusst, dass das Betreiberpaar ausgerechnet am Mittwochabend so viel Geld in der Tasche hatte? Bald wird bekannt: Das gesuchte Coupé ist am Morgen nach dem Überfall in Herzfeld abgestellt worden, und zwar bis in die folgende Nacht. Gerüchte, dass der Wagen später in Lippborg gesichtet wurde, bestätigen sich nicht. Nach einem Aufruf im WDR-Magazin „Hier und Heute“ meldet sich eine Dolmetscherin, die für die britische Rheinarmee arbeitet: Auf ihren Hinweis hin wird der Wagen an der Werler Ahornstraße vorgefunden. Dass dort vorwiegend Engländer wohnen, macht die Ermittler stutzig: Vor dem Diebstahl aus der Wiedenbrücker Kfz-Werkstatt war vorgesehen, den Fiat am nächsten Tag an einen Briten zu verkaufen.
Falschmeldung
Neun Tage nach den Schüssen macht die Kunde die Runde, jemand sei in einer Lippstädter Arztpraxis verhaftet worden. Stimmt aber nicht. Bald darauf geben die Ermittler bekannt, dass sie nun in Hamm ermitteln. Sie prüfen, ob es einen Zusammenhang mit einem Überfall auf eine Tankstelle im Ortsteil Heessen gibt. Zwei Ganoven waren dort am 15. Oktober mit einem in Büren gestohlenen BMW vorgefahren. Sie erbeuteten 2000 Mark.
Am 22. November wird Lippstadt von einem weiteren bewaffneten Überfall heimgesucht. Gegen 17 Uhr betritt ein junger Mann das Postamt Nord an der Friedrichschule. Er geht zu einem Schalter, richtet eine Pistole auf den Beamten und zischt „Alles Geld her!“ Der entgeisterte Postler wendet sich an seinen Kollegen am Nachbarschalter. Der Angesprochene, der nichts von dem Überfall ahnt, zuckt mit den Achseln: „Heute ist kein Geld mehr da.“ Der Räuber vernimmt es und flüstert, fast schon bittend: „Ich brauche aber wenigstens 300 Mark.“ Im nächsten Moment lässt sich sein Gegenüber vom Drehstuhl fallen, kriecht unter den Tisch und schreit: „Überfall!“. Daraufhin ergreift der Räuber die Flucht. Keine 24 Stunden später ist der Fall geklärt. Zeugen war vorm Überfall in der Nähe ein Mann aufgefallen. Die Beschreibung ist so präzise, dass der Verdächtige schon kurz darauf am Hauptbahnhof aufgegriffen wird. Er gibt die Tat unumwunden zu. „Ich bin in Geldnot und wusste mir nicht anders zu helfen.“ Seine Pistole ist allerdings verschollen. „Ich hab‘ doch gar keine Waffe dabei gehabt, das war nur eine Holzattrappe.“ Wo die angebliche Attrappe aber abgeblieben ist, bleibt ein Rätsel.
"Wir bleiben dran"
Handelt es sich bei dem gescheiterten Posträuber um den Schützen von der Tankstelle? Die Polizei verhört den 31-Jährigen eingehend. Am Ende steht die ernüchternde Erkenntnis: Mit dem Überfall an der Erwitter Straße hat dieser hier nichts zu tun.
Fast ein Jahr nach der Tat ist der Fall noch immer nicht aufgeklärt. Im September 1972 machen im Süden Lippstadts Gerüchte die Runde: Es gebe eine heiße Spur, zwei Männer seien verhaftet worden. Die Kripo winkt ab: „Alles falsch. Aber wir bleiben dran.“
Letzte Chance DNA
Der Mann, der den Lippstädter Tankwart erschoss, wurde bis heute nicht gefasst. Gibt es noch eine Chance? Die Mordkommission Dortmund ist – in Zusammenarbeit mit engagierten „Rentner-Cops“ – seit geraumer Zeit damit beschäftigt, Altfälle aus der Zeit seit 1970 mittels modernster DNA-Analysen aufzurollen, sofern noch Asservate wie Kleidungsstücke oder Tatwaffen vorhanden sind. Realistisch betrachtet dürften die Aussichten auf einen Ermittlungserfolg über 50 Jahre nach dem Tankstellenüberfall allerdings verschwindend gering sein.
Doch auch solche Fälle sind nicht immer aussichtslos. Kürzlich kam eine Nachricht aus den USA, die Mut macht. Ein Mord aus dem Jahr 1971 – die junge Lehrerin Rita C. war in Vermont erwürgt worden – wurde im vergangenen Februar doch noch aufgeklärt: mittels der DNA-Analyse eines Zigarettenstummels.