Ágnes - eine Überlebende des KZ Auschwitz

"Ich trage niemandem etwas nach aus der damaligen Zeit!": Diese Botschaft hat Ágnes Mészáros an die Einwohner von Lippstadt.

Das Foto entstand 2018 anlässlich des Interviews mit Ágnes Mészáros (links).

"Ich trage niemandem etwas nach aus der damaligen Zeit!": Diese Botschaft hat Ágnes Mészáros an die Einwohner von Lippstadt.

Das Foto entstand 2018 anlässlich des Interviews mit Ágnes Mészáros (links).

Von Christoph Motog   Budapest/Lippstadt - Ich trage niemandem etwas nach aus der damaligen Zeit!“: Diese Botschaft liegt Ágnes Mészáros ganz besonders für die Einwohner jener Stadt auf dem Herzen, in der die Auschwitz-Überlebende vor über 70 Jahren als Sklavin für die Nazis schuften musste: Lippstadt. 

 

Die 1930 im damals tschechoslowakischen Munkács (heute Mukatschewo/ Ukraine) geborene Ágnes Mészáros hatte eine unbeschwerte Kindheit, bis 1938 die Ungarn ins Karpatenbecken einmarschierten und die Macht übernahmen. Plötzlich wurden viele antisemitische Gesetze erlassen, die für die fast 14.000 Juden der Stadt große Einschränkungen bedeuteten. „Juden wurden die Geschäfte weggenommen, die Männer wurden jedes Jahr für ein paar Monate ins Arbeitslager gebracht“, und freitagabends gab es vor der Synagoge Pogrome, erinnert sich Ágnes. „Schon da fing für uns Juden der Krieg an“ – also „nicht erst dann, als sie uns abtransportieren“.

 

So waren die Jahre bis 1944 von Angst geprägt – es „ging schon keiner mehr ins Kino oder Theater, sie saßen zu Hause“. Ágnes‘ Vater erkannte den Ernst der Situation dennoch nicht, in seiner Funktion als Dolmetscher für die ihm vermeintlich freundschaftlich zugetanen Deutschen fühlte er sich nicht wirklich gefährdet. Seine Tochter konnte die sich verschärfende Lage dagegen nicht verdrängen. Sie hatte große Angst. „Ich habe in der Ecke geweint, ich war nicht in der Lage, zu lernen, ich konnte nichts auswendig lernen – weder einen Vers noch ein physikalisches Gesetz, es ging nicht, ich bin gerade so ohne sitzenzubleiben von einer Klasse zur nächsten gekommen.“

 Zusammengepfercht

Nachdem am 19. März 1944 die Deutschen einmarschiert waren, eskalierte die Situation vollends. Am 20. April mussten die damals 14-Jährige, ihr Bruder und die Eltern ihre Wohnung verlassen und fortan völlig beengt im jüdischen Ghetto in Munkács leben. Nur einen Monat später, es war am 20. Mai, „haben sie uns hinausgejagt“; man trieb alle zu einem Sammelpunkt. Dort wurde die Familie am Samstagmorgen mit 80 weiteren jüdischen Menschen in einen Viehwaggon gepfercht und nach Auschwitz deportiert. „Man gab uns einen Eimer Wasser und einen weiteren Eimer: einen Kübel, in den wir hineingepinkelt haben.“

 

Montagnachmittag traf der Zug in Auschwitz ein. „Und als wir mühsam aus dem Waggon stiegen, arbeiteten polnische Arbeiter am Bahnhof, die riefen auf Deutsch: ,Alle sind gesund! Es gibt keine Kranken, alle sind gesund!‘ Sie wollten uns damit zu verstehen geben, dass niemand sagen soll, er sei krank. ... Vor uns in einiger Entfernung stand Mengele, aber wir wussten nicht, wer das war. Meine Mutter hat bemerkt, dass er die Mädchen in meinem Alter so beiseite geworfen hat und sie hat dann nur gesagt: ,Schweig still!‘ Als wir bei Mengele ankamen, fragte er mich, wie alt ich sei, und meine Mutter sagte: ,16!‘ Ich höre gleichsam ihre Stimme, wie sie sagte: ,16!‘ Und dann hat Mengele mich nach rechts geschickt mit meiner Mutter. Die Frau neben uns mit dem Baby ging nach links“ – in den Tod. Auch ihren Vater und ihren Bruder hat Ágnes nach dem Aussteigen aus dem Zug nicht mehr gesehen. Beide haben den Holocaust nicht überlebt.

 Alle Haare abrasiert

Nun stand ein weiter Fußweg bevor, der zum sogenannten Bad führte. „Dort habe ich meine Sachen schön zusammengefaltet auf das Fensterbrett, und dann kam so eine polnische Frau mit großer Abscheu und warf meine Sachen vom Fenstersims herunter, als ob diese Sachen krankheitsverseucht wären – so dass nicht einmal mehr das übrigblieb.“ Nach dem Bad wurden ihre Haare abrasiert. „Auch jetzt noch sehe ich vor mir, wie meine Locken auf den Boden fielen. Fertig.“ Schließlich gelangten Ágnes und ihre Mutter ins Lager – in Baracke 7, wo auf Holzpritschen genächtigt wurde.

 

Ágnes musste in Auschwitz nicht arbeiten. Ihre Tage wurden durch den morgendlichen und abendlichen Zählappell strukturiert. Eigentlich war das ein einstündiges Prozedere. „Aber es kam sehr oft vor, dass sie die Anzahl der Lagerinsassen nicht richtig zusammenbekamen“, und „dann musste man sich hinknien, und so haben sie uns auf unseren Knien durchgezählt“. Das konnte bis zu drei Stunden dauern. Ágnes war oft sehr kalt dabei, denn sie hatte ja nur den gestreiften Kittel und Holzschuhe an. Wenn sie beim Appell stand, traf sie das Sonnenlicht immer von der gleichen Seite, wodurch ihr rechtes Ohr schwere Sonnenbrände bekam. „Man musste dann ein Stück wegoperieren. Dieses Ohr ist bei mir verstümmelt. Das ist kürzer, es fehlt ein Stück.“

 Grünzeug mit Sand

Das Essen in Auschwitz „war schrecklich schlecht. Besonders wenn es das grüne Essen gab. Dann wussten wir: Heute werden wir ganz und gar hungrig bleiben. Weil diese grüne Suppe so schrecklich war, aus irgendwelchem Gras und Grünzeug, und das war nicht gewaschen. Und der Sand war dann zwischen unseren Zähnen.“

 

Es gab in der Baracke ein Mädchen namens Marika, mit der Ágnes sich anfreundete. „Und dann ist sie ins Krankenhaus gekommen“ Sie kam nicht wieder. Marika hatte von Anfang an geklagt, dass sie es hier nicht aushalten wird. „Und wer so pessimistisch war, der war schon halb tot.“ Ágnes verlor ihren Optimismus dagegen nie. Diese Einstellung hat sie wahrscheinlich gerettet. Sie überstand zwölf Selektionen, bei denen Mengele stets die Hagersten auswählte, um diese hernach vergasen zu lassen. „Und hier zeigte sich der ureigene Sadismus von Mengele: Es gab dort in der Baracke aus einem ungarischen Dorf fünf Schwestern. Alle Fünf waren gleichermaßen hager, und er hätte sie alle auf einmal herauspicken können. Aber nein, sooft er kam, hat er immer eine einzelne dieser Schwestern weggenommen.“

 Nach Westfalen

Ab Sommer 1944 spitzte sich der kriegsbedingte Arbeitskräftemangel in Deutschland zu. Um die Lücken zu füllen, wurden in Auschwitz Frauen ausgesucht, die noch kräftig genug erschienen, um für das Naziregime zu schuften. Die Mutter verließ das Vernichtungslager am 10. Oktober Richtung Celle. Am 1. November kam auch Ágnes aus Auschwitz heraus. Sie landete zunächst im Konzentrationslager Ravensbrück, bevor sie Ende des Monats mit über 300 anderen Frauen nach Westfalen gebracht wurde.

 

In Lippstadt, erinnert sie sich, „sind wir am Nachmittag angekommen und sie haben uns erwartet mit gekochten Kartoffeln. … Dort gab es eine Küche und wir bekamen jeden Tag mittags eine warme Mahlzeit.“ Morgens und abends gab es indes „genauso wie in Auschwitz eine Portion Brot mit einem kleinen Stück Margarine drauf, ab und zu eine Scheibe Wurst und ab und zu so etwas wie einen Löffel Marmelade, die sie aus Rüben oder etwas Ähnlichem hergestellt hatten. Aber es war sehr wenig, also haben wir gehungert.“ Immerhin ging es menschenwürdiger zu als in Auschwitz – und „der Küchenchef war ein anständiger Mann“. Den Jüdinnen im Stammwerk der WMI erging es in vielerlei Hinsicht besser als jenen Leidensgenossinnen, die im anderen Lippstädter Lager schufteten, und zwar in den Eisen- und Metallwerken (LEM) an der Graf-Adolf-Straße: Dort waren drakonische Strafen an der Tagesordnung, es ging wiederholt gewalttätig zu.

 Pensum verfehlt

Ágnes erinnert sich allerdings daran, dass sie einmal vom Vorarbeiter an der Hospitalstraße gemaßregelt wurde. Weil die 14-Jährige ihr vorgeschriebenes Pensum nicht geschafft hatte, musste sie einen Tag lang eine schwerere Arbeit verrichten: „Von der kleinen Maschine, wo es eine sitzende Tätigkeit war, hat er mich versetzt an so eine große Maschine, wo es eine stehende Tätigkeit war und ich nicht genug Kraft besaß, um die Maschine überhaupt in Gang zu setzen.“

 

Als sich die Amerikaner Ende März 1945 Lippstadt näherten, wurden die Jüdinnen aus der Hospitalstraße auf den Marsch Richtung Osten geschickt – „durch Wälder, über Felder gingen wir täglich 30 Kilometer … Und es war April, ein hässliches Wetter, es hat geregnet, unsere Kleidung war durchnässt.“ Ágnes und ihre Gefährtinnen waren nur noch Haut und Knochen. „Die haben sich nur noch dahingeschleppt. … Ich kann nicht sagen, dass sie massenweise umkamen, aber Tatsache ist, wer aufs Feld hinausging, weil er eine Zwiebel oder eine Kartoffel gesehen hatte, der ist erschossen worden.“ Zwischendurch wurden auch Etappen mit dem Zug zurückgelegt. Einmal, erinnert sich Ágnes, „haben wir in Dresden angehalten und dort war gerade Bombardement, der Zug hat sich dadurch so stark bewegt, dass wir dachten, er fährt. Und wir waren gar keine Menschen mehr. Es gab eine Begebenheit, da saß ich im Waggon und ich spürte unter mir etwas Weiches. Und der Zug hielt am nächsten Bahnhof an und sie fragten, ob es Tote gäbe. Ich sagte: ,Es gibt keine.‘ Und dann sagten die anderen: ,Da ist doch unter dir ein Toter. Warum sagst du denn nicht Bescheid, dass sie ihn rausnehmen?‘“

 "Little Girl!"

Nach dreieinhalb Wochen auf dem Todesmarsch riskierte Ágnes in Sachsen die Flucht. Als sie sich einen Moment lang unbeobachtet wähnte, verbarg sie sich erst in einem Graben und entkam dann in den Wald. Am nächsten Tag machte sie sich mit einer ebenfalls ausgebüxten Gefährtin auf den Weg. „Unterwegs begegneten uns flüchtende deutsche Familien, einer zog eine Pistole und wollte uns erschießen, denn auf dem Pullover war ein weißes Kreuz und auch eine Nummer, so dass er sah, dass wir jüdische Häftlinge waren. Er wollte uns erschießen, aber die anderen sagten: ,Nein, nein, nein, nein! Wenn die Amerikaner hören, dass hier geschossen wird, werden sie uns bombardieren!‘ So sind wir entkommen.“ Später bekamen die Mädchen Hilfe von ebenfalls dem Nazijoch entkommenen französischen Häftlingen. Endgültig in Sicherheit war Ágnes aber erst, als auf der Landstraße plötzlich die amerikanischen Befreier auftauchten. „Und der eine Amerikaner kam her zu mir und sagte: ,Little Girl! Ganz kleines Mädchen!‘ Sie haben ja gesehen, dass ich 15 Jahre alt war.“

 

Ágnes wollte nun so schnell wie möglich nach Hause. Zunächst musste sie aber auf Anweisung der Russen für sechs Wochen in Quarantäne nach Polen. Dann wurde sie in die Tschechoslowakei gebracht. In Bratislava erfuhr sie, dass ihre Mutter lebt und bereits zurück in der Heimat war. Ihr nach Munkács zu folgen, war nicht einfach, „weil in den Zügen russische Soldaten waren, und sie haben sich sehr schlecht benommen. Sie grabschten den Frauen nach dem Busen.“ Schließlich schaffte es Ágnes aber nach Hause. Die Mutter heiratete später ein zweites Mal, sie lebte bis 1967. „Über die Zeit in Auschwitz durfte man in ihrer Anwesenheit nie reden, denn dann fing sie sofort an zu weinen.“ Sie hatte ja ihren Sohn und ihren Mann verloren. „Auch mit Freundinnen, die ebenfalls im Lager waren, wurde nie über das Lager gesprochen.“ Alle hatten dort die meisten ihrer Angehörigen verloren.#

 Eine Scheinehe

Ágnes heiratete 1951. Mit 31 Jahren, da hatte sie schon zwei Söhne, holte sie ihren Schulabschluss an der Abendschule nach. Nachdem ihr Mann 1978 verstorben war und einer ihrer beiden Söhne nach Ungarn geheiratet hatte, ergriff Ágnes 1979 die Gelegenheit, mittels einer Scheinehe von Munkács, das seit 1946 zur Sowjetunion gehörte, ebenfalls nach Budapest auszuwandern. Dort lebt sie bis heute.

 

Die mittlerweile fast 93-Jährige hat längst Frieden mit der Vergangenheit gemacht. „Ich bin niemandem böse.“ Fast alle Täter sind längst gestorben – und „es gibt nichts, wofür man einem Toten böse sein müsste. Ich bin böse auf den Antisemitismus. Ich bin böse auf den Faschismus, und zwar sehr. Aber es gibt keinen Grund, auf die böse zu sein, die nichts dafür können.“ Ihre Botschaft, die Ágnes Mészáros an kommende Generationen weitergeben möchte, ist: Mögen die Menschen einander lieben, mögen sie den Frieden wertschätzen und bewahren.