Lippstädter Knastgeschichten

Von Christoph Motog  

Lippstadt - Weil kein Lokus vorhanden ist, „so hat jeder Gefangene statt dessen einen Eimer, der zwar täglich geleert wird, aber doch, bei dem gänzlichen Luftmangel, einen fürchterlichen Duft verursacht“. Das schrieb der preußische Staatsrat Justus Grüner nach einer im Herbst 1801 vorgenommenen Besichtigung des Lippstädter Gefängnisses, das sich unterm Rathaus befand. Der spätere Berliner Polizeipräsident hatte zwecks Recherche für ein Buch über „öffentliche Sicherungsinstitute“ viele norddeutsche Gefängnisse aufgesucht. 

 

In fensterlosen Zellen

 

Die Zustände in Lippstadt – so viel ist Grüners Ausführungen zu entnehmen – gehörten nicht zu den besten in Westfalen. Die drei kleinen, mit Steinen gepflasterten Gelasse unterm Rathaus seien „sehr drückend“ und „in jeder Hinsicht zwecklos“ eingerichtet. Die engen, gerade mal mannshohen Räume „haben keine Fenster, die einzige Öffnung ist eine Klappe in den Türen, die auf den Gang münden, der selbst weder Luft noch Licht hat.“ Und: „Der Gefangene schläft auf Stroh, erhält Brot und Wasser zur Nahrung und kommt nie an die freie Luft.“

 

Justus Grüner fand es unbegreiflich, dass die Zellen in Lippstadt nicht anders angelegt waren, dass „man bei der Erbauung dieses Rathauses, das erst seit 20 Jahren steht, gar keine Rücksicht auf die Einrichtung der Kerker nahm“. Den Hauptmangel sah er darin, dass die Zellen dicht beieinander liegen, denn „so brauchen die Gefangenen nur den Mund aus den Türklappen zu recken, um sich miteinander zu besprechen“. Die Wache „kann dies nicht verhindern, da sie der Entfernung wegen es nicht zu hören vermag“. Zwar seien die Gefangenen gefesselt, aber „demungeachtet versicherte man mich, daß die meisten Gelegenheit fanden, zu entkommen“. Die von einigen Stadtsoldaten gebildete Wache hause in einer vorderen Stube, beobachte den Eingang und bekomme offenbar nur wenig davon mit, was sich im Rathauskeller abspiele.

 

Auf dem Foltersitz

 

Vom Soester Gefängnis hatte Gruner einen besseren Eindruck: Hier erlaube der Schließer den Insassen, „in den verschlossenen Hof gehen und frische Luft schöpfen zu dürfen“. In Winterzeiten werde den Gefangenen erlaubt, sich um einen Feuerherd zu setzen, um sich zu erwärmen. Allerdings fand der preußische Staatsrat auch hier „noch einen Überrest der ehemaligen grausamen Tortur. Ein hölzerner Stuhl, auf dem alle Glieder auseinandergeredet und fest geschlossen wurden“, bis der Angeklagte seine Schuld bekannte. Der Soester Gefängnisschließer, so Gruner, erinnere sich noch an einen Menschen, der von dieser Folter „zeitlebens lahm geblieben war“.

 

Das Lippstädter Gefängnis wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts modernisiert – unter anderem mit Fenstern. Die an die Straße grenzenden Lichteinlässe brachten allerdings neue Probleme mit sich. Im September 1851 veröffentlichte der Patriot einen Leserbrief, dessen Verfasser namens Reinige von einem allabendlichen „traurigen Schauspiel“ berichtete: Es handele sich um eine „im hiesigen Rathause schon seit einiger Zeit eingekerkerte blödsinnige Person, welche durch ihre lauten Ausbrüche täglich einen großen Theil der hiesigen Bewohner bis spät in die Nacht“ beschäftige. Die Insassin müsse möglichst bald in „eine geeignete Heilanstalt gebracht werden“, forderte der Unterzeichner – zumal „mitunter von der Straße aus gegen die Leidende selbst auch rohe Auftritte schon vorgekommen sind“.

 

Fünf Tage später legte der zivilcouragierte Herr Reinige nach: Es sei ein öffentlicher Skandal, dass die Unglückliche im Rathauskerker „von rohem Pöbel jeden Abend auf das Abscheulichste gereizt und verhöhnt wird“. Er selbst habe in der Angelegenheit schon „polizeiliche Hülfe angerufen“, jedoch leider vergebens. Stattdessen habe sich die Situation noch verschlimmert. „Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen“, müsse die beklagenswerte Kranke seit „mehreren dieser letzten kalten. Nächte sogar bei offenem Fenster in ihrem Zwinger zubringen.“ Das alles sei ebenso inhuman wie „jedes sittliche Gefühl empörend“. In einer Stadt wie Lippstadt, wo Kräfte und Mittel zur Abstellung solcher Vorgänge vorhanden seine, dürfe so etwas nicht vorkommen.

 

In der Falle

 

Lippstädter Gefängnisgeschichte wurden später auch im ehemaligen Amtsgerichtgebäude an der Ecke Fleischhauerstraße / Lange Straße geschrieben. Ein paar ältere Lippstädter erinnern sich noch an etwas, das dort angeblich nicht selten vorkam: Untersuchungshäftlinge, die hinter den vergitterten Fenstern standen, pöbelten Passanten mit derben Sprüchen an. Als Ende der 1960er-Jahre ein Zechpreller durchs Toilettenfenster der dem Amtsgericht benachbarten Kneipe entwich, fand er sich dummerweise im Gefängnishof wieder. Dort gab es kein Entrinnen. Onkel Willi, ein gewitztes Wirte-Original, hatte leichtes Spiel. Er alarmierte den Gerichtswärter, der sich den von unüberwindbaren Mauern umgebenen Halunken mühelos schnappen konnte.