Von Christoph Motog
Kreis Soest - Was war zwischen 1920 und 1929 in und um Lippstadt los? Was ließ die Menschen staunen, was brachte sie aus der Fassung? Mit solchen Fragen beschäftigt sich eine neue Blicker-Serie.
Im Folgenden zitieren wir Nachrichten über verschiedene Epidemien, die im Jahr 1920 in der westfälischen Provinz grassierten. Die berüchtigte spanische Grippe wütete vor allem im letzten Kriegsjahr 1918. Gleichwohl gab es noch Anfang 1920 immer wieder lokale Herde, die heute als die dritte Welle bezeichnet werden:
Dortmund, 19. Febr. Die Grippe hat hier einen derartigen Umfang angenommen, daß die Polizeiverwaltung sich gezwungen gesehen hat, die hiesigen öffentlichen und privaten Schulen vom 19. Februar bis 3. März zu schließen.
Hagen, 23. Febr. Die Grippe wütet zurzeit auch hier wieder sehr stark. Fast in jedem Hause leidet der eine oder andere unter den Krankheitserscheinungen. Im allgemeinen nehmen die Fälle in unserer Stadt keinen schlimmen Verlauf – jedoch wird auch hier mancher von der tückischen Krankheit dahingerafft. Wieder zeigt sich, daß junge Frauen besonders leicht der Grippe erliegen. Eine Familie in Altenhagen wurde furchtbar heimgesucht, sie muß innerhalb einer Woche nun schon den dritten Todesfall bekannt geben; drei erwachsene Töchter, darunter eine Kriegerwitwe, wurden der bedauernswerten Familie entrissen.
Bocholt, 9. März. Die Grippe tritt auch hier in besorgniserregender Weise auf. Es befinden sich zurzeit etwa 3000 Personen, mithin der achte Teil der Bevölkerung, in ärztlicher Behandlung. Das Krankenhaus ist überfüllt. Da auch viele barmherzige Schwestern erkrankt sind, hat man Rote Kreuzschwestern zur Aushilfe heranziehen müssen. Täglich bewegen sich lange Leichenzüge zum Friedhofe. Als höchste Beerdigungsziffer waren an einem Tags 18 zu verzeichnen. Es fehlt häufig an geeignetem Leichenfuhrwerk, so daß man oft sogar Kutschwagen zur Bestattung benutzt.
Lippstadt bleibt von einer dritten Welle verschont, doch am 26. April schießt vielen Patriot-Lesern der Schreck in die Glieder:
„Seit einigen Tagen ist hier die Schlafkrankheit aufgetreten. Wie wir erfahren, sind bereits vier Personen ins katholische Krankenhaus eingeliefert, von denen zwei bereits gestorben sind, ein Soldat und ein Zivilist. Die Schlafkrankheit ist eine Infektionskrankheit, die sonst nur in tropischen Ländern heimisch ist. … Das Gift wird durch den Stich von blutsaugenden Insekten auf den Menschen übertragen. Es vermehrt sich in den Körpersäften und bedingt ein langdauerndes, tödlich endendes Siechtum des Erkrankten …“
Am nächsten Tag erscheint ein Dementi:
„Die hier aufgetretene Schlafkrankheit hat mit der tropischen Schlafkrankheit nicht das geringste zu tun. Beide haben nur in so weit eine gewisse Ähnlichkeit, als bei beiden sehr starkes Schlafbedürfnis besteht. Sonst sind sie in Bezug auf Ursache, Verlauf und Prognose vollständig verschieden. Bei der jetzt auftretenden Form handelt es sich um entzündliche Veränderungen des Gehirns nicht eiteriger Natur. Am meisten in die Augen fällt das fast ununterbrochene Schlafen der Schlafkranken. … Die Erreger waren bisher nicht bekannt. Erst in den letzten Tagen werden aus Saarbrücken Beobachtungen gemeldet, nach denen bei der Krankheit im Blute und den Hirnflüssigkeiten Plasmodien als Erreger nachzuweisen sind. Es sind dieses kleinste tierische Parasiten …“ (Anmerkung der Blicker-Redaktion: Heute wissen wir, dass es sich um Fälle von Malaria handelte.)
Ein verbreitetes Problem sind Typhus-Epidemien. In Mellrich treten im Juni sechs Fälle auf.
„Die Schulen sind bis auf Weiteres geschlossen. Ein Konzert mit Festball fand deshalb nicht statt. Eine schon lang geplante Wasserleitungsanlage wird infolge der Epidemie, die sich noch in mehreren Orten der Haardörfer bemerkbar macht, jetzt zur Verwirklichung gelangen.“
Das mit Abstand größte Problem ist 1920 die Tuberkulose:
„Der Kreis Lippstadt marschiert mit der Anzahl von tuberkulösen Personen im deutschen Reiche an erster Stelle“, sagt der Abgeordnete Holle in einer Kreistagssitzung. Es müssten schleunigst Mittel und Wege gefunden werden, um das weitere Umsichgreifen der Volksseuche zu steuern.
Daraufhin meldet sich der Lippstädter „Verein für naturgemäße Lebens- und Heilweise“ mit einer Stellungnahme:
Es existiere doch ein wirksames Mittel zur Behandlung und Vorbeugung: Lichtbäder. „Um nur eine ärztliche Stimme anzuführen: Dr. Malgat sagte auf dem internationalen Tuberkulosekongreß 1915: ‚Die Sonne ist in Wirklichkeit das Ideal der Tuberkulosebehandlung, indem sie das Allgemeinbefinden des ganzen Organismus hebt, die Mikroben angreift und zerstört, die heftige Wirkung ihrer Gifte vermindert, ohne üble Nachwirkungen, wie solche der größte Teil pharmazeutischer Mittel, in den Magen, Eingeweide oder Haut eingeführt, hervorruft. Ich behaupte, daß an chronischer Tuberkulose Erkrankte aller Krankheitsgrade durch methodisches Aussetzen ihres nackten Körpers den direkten Sonnenstrahlen nach mehr oder weniger langer Zeit zu heilen sind, es sei denn, daß die Organe schon hoffnungslos zerstört sind. Leider ist ein städtisches Lichtluftbad für Lippstadt bisher ein frommer Wunsch geblieben. Das vom Naturheilverein bei der ‚Sonnenau‘ errichtete hat leider den Nachteil, daß es von der Stadt zu weit entfernt liegt. … Der vor dem Kriege ins Auge gefaßte Plan, auf dem südlichen Kanaldamm ein städtisches Lichtluftbad zu errichten, verdient daher, nunmehr verwirklicht zu werden ...“