Von Christoph Motog
Lippstadt - „Wo sollen wir denn jetzt nach der Schule hin?“ Als das Cartoon am Lippertor im Frühjahr 1973 nur noch abends öffnet, fühlen sich viele 13- bis 18-Jährige von einem Tag auf den anderen obdachlos. Die angesagte Lippstädter Bar war jahrelang ihr Treffpunkt. Und nun? Leserbriefschreiber weisen darauf hin, dass in Lippstadt ein Jugendzentrum fehlt. Zwar gebe es die Jugendheime der Kirchengemeinden, „doch fehlt es an einer ständigen Einrichtung, die auch schon nach Schulschluß von den Jugendlichen- aufgesucht werden kann“, schreibt Wolfgang Schulte-Steinberg von den Lippstädter Jungsozialisten. In einem Appell an alle relevanten politischen und gesellschaftlichen Mandats- und Amtsträger drängen die Jusos auf eine möglichst kurzfristige Lösung des Problems, vielleicht in einem leerstehenden Gebäude.
Bis tatsächlich ein kommunales Jugendzentrum in Lippstadt öffnet, wird noch viel Wasser die Lippe runterfließen. Zunächst gründet sich ein „Initiativkreis für ein selbstverwaltetes Jugendzentrum.“ Die Stadt schiebt die Verantwortung dem Kreis Soest zu. Im April 1975 gibt es endlich grünes Licht. Der Beschluss lautet, ein altes Lagerhaus an der Bahnhofstraße umzubauen – für rund 400.000 Mark. Der Initiativkreis wird in die Planung eingebunden und befasst sich damit, eine Satzung aufzustellen und Programmvorschläge zu machen.
Fehlt nur noch eine Fachkraft als Einrichtungsleiter. Eine geeignete Persönlichkeit ist bald gefunden. Knapp ein halbes Jahr vor der Eröffnung wird der 26-jährige Sozialpädagoge Lothar Langguth eingestellt. Nun läuft der Countdown; die Jugendlichen legen sich mächtig ins Zeug und malen das Haus von innen an. „Jedoch kann man nicht leugnen, daß das Aktionszentrum doch noch sehr steril wirkt. Man kann nur hoffen, daß die Hausbesucher es wohnlicher und gemütlicher gestalten werden“, schreibt der Initiativkreis in einem Leserbrief.
Am 24. September 1976 ist es soweit: Das „Haus der offenen Tür für die Jugend“ wird an der Bahnhofstraße 10 eröffnet. Zielgruppe sind 10- bis 25-Jährige, geöffnet ist dienstags bis samstags von 17 bis 22 Uhr. Das Geschehen im AZ wird auf drei Säulen gestellt: erstens der für alle offene Bereich im Erdgeschoss und erstem Stock (mit dem Tagescafé als Mittelpunkt), zweitens die Gruppenarbeit im zweiten Stock, drittens Wochenend-Veranstaltungen wie Disko und Konzerte.
Das Publikum erweist sich bald als sehr gemischt, alle sozialen Schichten treffen aufeinander – Kinder wohlhabender Geschäftsleute aus der City kommen ebenso wie Gleichaltrige aus den Arbeitersiedlungen am Stadtrand. Jung-Hippies treffen auf Mofa-Rocker, Punks auf Popper. Die Vermischung war gewünscht, bedeutet aber auch Konfliktpotenzial. Im Tagescafé kommt es häufig zu Meinungsverschiedenheiten am DJ-Pult. „Ej, mach ma' Musik!“
Die Hauptamtlichen müssen darauf achten, dass das strikte Alkoholverbot eingehalten wird – keine leichte Aufgabe in der vor allem in den ersten Jahren überaus stark besuchten Einrichtung. Einer der Mitarbeiter ist mit Spürsinn gesegnet, ihm entgeht kaum ein Regelbruch, so dass er bei den üblichen Verdächtigen bald einen passenden Spitznamen weghat: Die dicke Sitte. Geraucht werden darf aber in jeder Ecke des Jugendzentrums – das gilt Ende der 1970er Jahre hier wie überall als normal.
Die Gruppenarbeit strotzt vor Vielfalt: etwa mit Film-AG, Videogruppe, Foto-AG, Disko-AG, Schach-AG, Sport-AG, Koch-, Gitarren- und Selbstverteidigungskursen, Mädchen- und Kindergruppen. Immer wieder kommen neue Angebote dazu; schon Mitte der 80er bildet sich eine Computer-AG. Besonders gern erinnert sich Lothar Langguth an die engagierte Behindertengruppe, in der Oberstufenschüler mit jungen Leuten aus den Einrichtungen der Lebenshilfe zusammenkamen – für gemeinsame Klön-, Fernseh- oder Grillabende.
Im AZ versteht man es, zu feiern. Der Jahrestag der Eröffnung wird alljährlich mit einer Jubiläumswoche gefeiert. Zum Dreijährigen im September 1979 gibt es Varieté, Konzerte, eine Geburtstagsfete und jede Menge angesagte Filme – von Brian de Palmas „Carrie“ über Adolf Winkelmanns „Die Abfahrer“ bis hin zum Kultfilm „Harold and Maude“.
Ende der 70er gibt es wohl kein Jugendzentrum in Deutschland, das nicht auch mal in bürgerlichen Kreisen aneckt. Als im AZ im Mai 1977 ein „Solidaritätswochenende für Chile“ inklusive Protest gegen den Diktator Pinochet aufgezogen wird, ist der politische Aufschrei in Lippstadt groß. Hinter den Kulissen wird versucht, Druck auf die verantwortlichen Jugendlichen auszuüben; in den Gremien geht es hin und her.
Einen weiteren Eklat gibt es, als der Schauspieler Jochen Baran ein Stück über einen angetrunkenen Priester spielt. Ein katholischer Pfarrer reagiert empört und interveniert. Doch bald wächst Gras über die Angelegenheit. Keine Angst vorm Anecken haben auch die Mitglieder der Öko-Gruppe. Eines Tages ziehen sie eine Demo der besonderen Art auf. Die Jugendlichen begeben sich zum Südertor, stülpen sich Atemschutzmasken über und versuchen mit Autofahrern ins Gespräch zu kommen, die vor den geschlossenen Schranken mit laufendem Motor auf freie Fahrt warteten. Laut ihrer anschließend veröffentlichten Statistik standen während ihrer Aktion 153 Wagen mit angelassenem Motor da, nur 139 Autofahrer hatten ihn ausgestellt.