Sangria aus der Wanne:  im Don Quijote

Once upon a time ...

... und Tschüss ...

... und weg. Fotos: Motog

Once upon a time ...

... und Tschüss ...

... und weg. Fotos: Motog

Von Christoph Motog

 

Lippstadt - Er kann nicht spielen, will nur kurz verschnaufen. Der Betrunkene lehnt sich an das zwischen Toilettentür und Theke postierte Klavier. Stehend nickt er ein, nichts kann ihn wecken. Ohne ihm Böses zu wollen, strömen immer wieder neue Leute herbei, nehmen den Schlafenden in ihre Mitte und lassen sich als Trio fotografieren. Die kleine Episode dürfte über zehn Jahre her sein. Für manche gilt jene Zeit als die gute alte Donqui-Ära, doch schon damals glauben viele an ein bevorstehendes Ende. In Wahrheit war an keinem Abrissgerücht was dran. Auch Brandstifter schafften es einst nicht, den Club zu Fall zu bringen.

 

Seit Anfang 2020 war der Abriss des Don Quijote allerdings beschlossene Sache; im September folgte die Vollstreckung. In Erinnerung bleibt eine gastronomische Ära, die 1974 mit der Eröffnung einer spanischen Kneipe begann und 2019 mit der Schließung eines Tanzclubs endete.

 

Kleine Chronik der 45-jährigen Kneipendisco-Geschichte:

 

1974: Lengua en salsa (Zunge in Sauce) ist die Küchenspezialität einer spanischen Begegnungsstätte, die etwas versteckt an einem zum Güterbahnhof führenden Bypass der Bahnhofstraße eröffnet worden ist. Die Betreiber Manuel und Tito geben ihrer Gaststätte den Namen des bedeutendsten Romanhelden ihres Herkunftslands.

 

1979: Erstmals öffnet das Don Quijote an Heiligabend. Das Experiment glückt. Auch ein paar versprengte Deutsche verbringen hier die halbe, aber keinesfalls stille Nacht. Zehn, zwanzig und dreißig Jahre später werden stets hunderte Christbaumflüchtlinge herbeiströmen. Die Leute freuen sich auf ein Wiedersehen mit Freunden oder wollen die Geburt des Herrn begießen bis es rauscht. Zur Stoßzeit nach Mitternacht treffen so viele gleichzeitig ein, dass zwischendurch nichts mehr reingeht und sich lange Warteschlangen bilden. Die eine oder andere Christmas-Party wird erst nach 10 Uhr morgens enden.

 

1981: Die Konkurrenz ist groß, es gibt einen Haufen spanischer Kneipen in LP – Tio Pepe, Las Vegas, Casa de Espana, Centro Espanol … Manuel und Tito hören auf und übergeben an Heinz Steltemeier und Jörg Schneider. Ihre Getränkekarte bietet „Sangria aus der Badewanne“. Es wird ein kurzes Gastwirtespiel, im Folgejahr übernehmen zwei kleine Italiener.

 

1983: Auch die Italo-Phase war nicht von Dauer. Der Zapfhahn gehört nun zwei Frauen, Petra Wolf und Beate Flüchter. Hungrige bekommen scharf gewürzte Pincho-Spieße und zartfleischige Froschschenkel. Hinter der Glastür im Saal finden erste Konzerte statt. Auch der Jazzclub wird hier eine Bühne finden.

 

1988: Petra Wolf führt den Betrieb fortan allein weiter. Der Saal verwandelt sich unter der Regie von Martin „Max“ Rudat in einen Club für alternativen Rock und Pop, mit Tanzfläche und DJ-Pult. Dazu etabliert sich das Donqui als Live-Adresse. Hier spielen sowohl lokale Größen als deutschlandweit bekannte Acts wie Selig aus Hamburg.

 

1991: Unterm Titel „Schön war die Zeit … Punkbands im Don Quijote 1990-1991“ erscheint ein Cassetten-Sampler. Zu den Gruppen, die hier waren, gehören Griff ins Klo, Fleischlego, die Sumpfpäpste und (die heute schwerer denn je angesagten) WIZO. Der Sampler erklimmt die Spitze der Lesercharts des größten deutschen Punkmagazins ZAP.

 

1992: Vor 604 zahlenden Gästen spielen Anfang Februar drei heimische Bands: Reprise, Shivering Penguins und Unbelievable Scenes. Es dürfte der Allzeit-Zuschauerrekord in der Kneipendisco gewesen sein. Bis Mitternacht wird gerockt.

 

1994: Der Club brummt. Vor allem freitagnachts, wenn hier hunderte Schüler und Studenten feiern.

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Wer auf dem Herrenklo hochblickt, sieht Efeu, das aus dem Lüftungsschacht herunterhängt. Im Laufe einiger Jahre macht sich das Grün immer breiter, bis der eingedrungene Wildwuchs irgendwann gekappt wird.

 

1997: Auch im Donqui verkehren ein paar Unvermeidliche mit notorischen Eigenschaften. Da ist der Kerl mit den strähnigen Haaren, der nur zu Reggae tanzt, also nie mehr als 20 Minuten pro Nacht. So weit, so gut, wäre da nicht die allzu streng geratene Körpergeruchsnote, die er auf dem Dancefloor verströmt. Dieser Umstand verschafft ihm viel Platz, weil andere fix auf Distanz gehen. Seinen Ruf weg hat auch ein nie nüchterner Langhaariger, der stets erst nach 4 Uhr auftaucht. Heißt: kurz vor Feierabend. Böse Zungen glauben, den Grund zu kennen: Geiz. Wenn der Eitle eine Frau anmacht, die er als potenzielle Affäre taxiert hat, will er ihr höchstens zwei Drinks ausgeben müssen, bevor das Don schließt und sich die Frage „Zu dir oder zu mir?“ stellt.

 

1999: Dass sich so gut wie nie rechtsextreme Skinheads her trauen, macht manche ein wenig stolz. Eines Nachts aber fahren auswärtige Neonazis vor, um das Don in Beschlag zu nehmen. Es wird ihnen nicht gelingen. Eine Übermacht an Stammgästen zeigt Zivilcourage und verteidigt erfolgreich die Tür.

 

2000: Auf der Güterbahnhofs-Rampe rostet seit Längerem ein kleiner LKW vor sich hin. Es ist ein alter Hanomag. Keiner weiß, wer den da abgestellt hat. Ein Don-Stammgast kommt in den Besitz der Schlüssel und zieht Nutzen draus. Jedes Wochenende verlässt ein verschworenes Grüppchen für ein Weilchen den Club und pilgert um eine Mauer herum zu dem Oldtimer. Im Hanomag quatscht man ungestört und raucht, was man will. Fast jedes Mal stößt wie aus dem Nichts ein stoischer, einsilbiger Typ dazu. Manche nennen ihn einen Schmarotzer, er wird aber wohlwollend geduldet, weil er kraft seiner lakonischen Art als Original gilt. 

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Im Milleniumsjahr macht ein als unbeliebt geltendes Don-Faktotum den Abgang. Das wird gefeiert. Auf der „W. ist weg Party“ (Name von der Redaktion abgekürzt) gibt‘s Pils und Korn für eine Mark.

 

2001: Das Donqui läuft nicht mehr wie noch Ende der 90er. Selbst freitagsnachts zieht es nur noch wenige her. Melancholie liegt längst in der Luft, als Petra Wolf im Herbst unerwartet stirbt. Nicht wenige befürchten, dass sich kein Nachfolger findet. Zudem wabern immer wieder Gerüchte durch die Stadt, das Gebäude müsse der Südtangente weichen. Was Quatsch ist, die neue Straße wird jenseits der Bahnlinie verlaufen.

 

2002: Es findet sich ein Nachfolger. Matthis Gierosz zieht die Neueröffnung als großes Revival auf – mit Selig-Frontmann Jan Plewka, langjährigen DJs und weiteren alten Freunden des Hauses. Das Quijote soll als alternativer Club mit vielen Konzerten fortgeführt werden. Schon bald läuft es rund, jahrelang ist der Laden wieder schwer angesagt – bei Schülern und Studenten, aber auch vielen anderen. Unter Unwissenden gilt das Don jedoch weiter als finstere Spelunke. Was paradox ist, muss die Polizei doch so gut wie nie hergerufen werden, weil die Leute hier überaus friedlich sind.

 

2006: Freitagnachts wird gern mal kurz eskaliert. Mit ausgelassenem Rempeltanz, besser bekannt als Pogo. Im Blicker ist zu lesen, dass auch Unbeteiligte davon betroffen sein können: „Gut, dass du schon ein paar große Schlucke von deinem Bier geschlürft hast: Du stehst am Rand der Tanzfläche und aus dem hüpfenden Rempler-Pulk fliegt dir plötzlich mit Kawumm ein Geschoss in Form eines 90-Kilo-Kerls vor die Brust, bevor er neben deinen Füßen auf seiner Fresse landet, aber heile wieder hochkommt. Auch dir hat die Kollision kaum geschadet, ein paar auf deiner Jacke gelandete Spritzer Bier müssen zwar auf den Durchfluss deiner Kehle verzichten, doch dieses kleine Opfer an eine gelingende Freitagnacht ist zu verschmerzen.“ In der Tat wird das Pogo-Spektakel weitgehend toleriert: „Und wenn ich doch mal reingerutscht bin, bin ich auch immer heile wieder rausgekommen“, heißt es in einem Forums-Kommentar.

 

2007: Eine der beiden Herren-Sitztoiletten ist stets verschlossen. Vor der Tür prangt seit den frühen 80ern ein kleines Schild: „Schlüssel an der Theke erhältlich“. Keiner nimmt das Angebot wahr. „Nach dem Schlüssel hat noch nie jemand gefragt“, erzählt der Wirt.

 

2008: Teile des Personals stehen im Ruf, mit borstigem Charme gesegnet zu sein. Das Klischee wird vom Team selbstironisch aufgegriffen. „Freundlich gibt’s woanders“ steht auf der Homepage unterm Foto einer verächtlich guckenden Thekenfrau.

 

2009: Vor einigen Jahren war’s wegen der Südtangente, nun faselt die Gerüchteküche erneut von einem Abriss. Diesmal aufgrund des geplanten Einkaufszentrums am Güterbahnhof. Das Vorhaben erweist sich als Luftschloss. Donqui bleibt.

 

2013: Die goldenen Jahre sind Geschichte, es geht bergab. Ein Versuch, den Club neu auszurichten, hat ebenso wenig Resonanz gefunden wie die spätere Rückbesinnung auf die Wurzeln. Ein Führungswechsel soll’s richten, Elli Janigk versucht, das Don wieder als subkulturellen Treffpunkt zu etablieren. Jede Woche ist „Full Metal DONnerstag“. Mancher Gig spricht auch gesetzteres Publikum an, ab und zu gastieren Bluesrocker wie Brother Dege.

 

2017: Elli sagt Tschüss. Ab Sommer ist ein Quartett am Ruder. Timo Habig, Manuel Kellerhoff, Daniel Klein und Kai Thürmer sind guter Hoffnung, den Club wieder profitabel zu machen. Fortan gibt es vermehrt Partys mit elektronischer Tanzmusik. Das neue Konzept spiegelt sich auch im verkürzten Clubnamen wieder: Es ist nur noch vom „Don“ die Rede, der Zusatz „Quijote“ ist gestrichen.

 

2019: Zur Herbstwoche öffnet das Don zum letzten Mal. „Leider wird es keinen Nachfolger geben, da das Gebäude abgerissen werden soll ...“, erklären die Betreiber.

 

2020: Diesmal war es kein Gerücht; im September wird das Don-Gebäude tatsächlich abgerissen. Es stand im Weg. Ein Investor will zwischen Bahnhofstraße und künftiger Jakob-Koenen-Straße Stadthäuser bauen.