Budapest-Auschwitz-Lippstadt:  ein Roman schlägt Wellen

Nach der 2011 erfolgten Wiederveröffentlichung in Ungarn wurde der Roman von Literaturkritikern als Meisterwerk gefeiert.

Nach der 2011 erfolgten Wiederveröffentlichung in Ungarn wurde der Roman von Literaturkritikern als Meisterwerk gefeiert.

Von Christoph MotogLippstadt - Die jüdische Prostituierte Lulu wird Anfang 1944 von Budapest nach Auschwitz deportiert. Sie endet nicht in der Gaskammer, sondern gehört zu jenen Insassinnen, die im Sommer 1944 vom berüchtigten Lagerarzt Mengele selektiert werden, um in deutschen Fabriken kriegswichtige Arbeit zu verrichten. So kommt Lulu nach Lippstadt, wo sie die letzten acht Kriegsmonate schuftet.

 

Lulu war keine reale Person, doch die von der ungarischen Schriftstellerin Teréz Rudnóy aufgeschriebene Geschichte hat einen wahren Kern, waren es doch über 1000 jüdische Frauen, die zwischen Sommer 1944 und Frühjahr 1945 Zwangsarbeit in Lippstadt leisteten. Diese Frauen waren aus Auschwitz-Birkenau überstellt worden, um die Kriegsmaschinerie in zwei Fabriken am Laufen zu halten: in den Eisen- und Metallwerken (LEM) und im WMI-Stammwerk.

 

Eine jener Zwangsarbeiterinnen war Teréz Rudnóy. Unmittelbar vor Kriegsende wurde sie mit ihren Leidensgefährtinnen auf den Todesmarsch von Lippstadt nach Bergen-Belsen geschickt, jedoch am Ostersonntag 1945 in Kaunitz von amerikanischen Soldaten befreit. Teréz Rudnóy kehrte nach Ungarn zurück und veröffentlichte 1947 einen autofiktionalen Roman über ihre Zeit in Auschwitz, Lippstadt und Kaunitz: „Szabaduló asszonyok“ (sinngemäß: Der Weg der Frauen in die Freiheit). Das Buch schrieb sie nicht von ungefähr: Bevor Teréz Rudnóy 1944 deportiert wurde, hatte sie bereits drei Bücher veröffentlicht und galt als große Hoffnung der ungarischen Literatur. Folgerichtig betrachtete sie in Auschwitz und Lippstadt sowohl ihre Mitgefangenen als auch die Peiniger mit dem Blick einer Schriftstellerin: als Figuren, die verewigt werden sollten.

Alle Angehörigen verloren

 

Nach dem Krieg stand Teréz Rudnóy zunächst alleine da: Die 35-Jährige hatte sämtliche Angehörigen verloren: Ihre Eltern, ihr Mann und ihre Söhne waren in den Vernichtungslagern umgekommen. Umso bemerkenswerter, dass sie die Kraft fand, einen Roman über die Schreckenszeit zu schreiben.

 

Der Roman schildert im Kern die ersten 24 Stunden in Kaunitz. Besagte Lulu, die nicht nur ungarisch, sondern auch perfekt englisch und deutsch spricht, wird zur Dolmetscherin der Amerikaner, aber auch zu einer Art Spitzel. Sie wird in ein Haus eingeschleust, in dem SS-Helferinnen unter Arrest stehen. Die Amerikaner befürchten, dass sie einen Aufstand planen. Lulu soll die Ohren spitzen. Dann passiert etwas Unvorhergesehenes: Eine der SS-Frauen ist schwanger und bekommt vorzeitig ihre Wehen, es droht eine Frühgeburt. Lulu gibt sich hilfsbereit und erklärt, sie wolle einen Arzt holen. Was sie aber nicht tut. Sie will Vergeltung.

 

Renommierter Verlag

 

Der Roman ist außergewöhnlich, weil er das Ende des Kriegs und die Befreiung nicht als Ende des Leids, sondern als Quelle neuer Konflikte sieht. Tragischerweise ist Teréz Rudnóy zwei Wochen vor der Erstveröffentlichung bei einem Schiffsunglück in der Donau ertrunken. Das Buch wurde von der kommunistischen Kulturpolitik nicht goutiert und geriet schnell in Vergessenheit. Nach der Wiederveröffentlichung 2011 war die Resonanz in Ungarn jedoch beachtlich. Glaubt man der Literaturwissenschaftlerin Ágnes Orzóy, handelt es sich um ein Meisterwerk – anders als meisten Holocaust-Erinnerungen, die zwar dokumentarischen Wert, aber nicht unbedingt literarische Bedeutung besitzen.

 

Blicker-Redakteur Christoph Motog stellte den Roman vergangenen November in der früheren Lippstädter Synagoge vor. Diese Auseinandersetzung mit Rudnóys Buch schlug Wellen: Mittlerweile stehen die Zeichen auf eine Veröffentlichung in einem der renommiertesten deutschen Verlage. „Und mit etwas Glück können wir die deutsche Übersetzung als Erste in Lippstadt vorstellen“, sagt Dirk Raulf, Geschäftsführer des jüngst gegründeten Vereins „Kulturraum Synagoge Lippstadt“. -mot